Mein ist dein Herz
Erkenntnis reicht vollkommen aus, um meinen ESD-Koffer zu nehmen, ihm den Rücken zuzudrehen und im Vorbeigehen den wenigen Kollegen ein schönes Restwochenende zu wünschen, die noch da sind.
Dass Tyler nur meinetwegen an einem Samstag in der Spätschicht erschienen ist, ist klar. Dennoch will ich mir deswegen kein schlechtes Gewissen machen. Geld hat noch niemandem geschadet und diese Schichten werden besonders gut vergütet.
In der Umkleide angekommen, erlaube ich es mir nicht, zu trödeln, lege den weißen Kittel ab, ziehe mein Arbeits-T-Shirt aus und schlüpfe ganz schnell in ein frisches Oberteil.
Ob ich jetzt direkt nach Hause fahre, oder doch nach Isny, weiß ich noch nicht. Einerseits würde ich Sean gerne sehen, mich in seiner Umarmung verschanzen und einfach abschalten. Andererseits meldet sich in letzter Zeit mein Verantwortungsbewusstsein zu Wort. Vor allem dann, wenn er mir seine Liebe beteuert, wahnsinnig lieb ist und sämtliche Wünsche augenscheinlich direkt von meinen Lippen abließt, ich aber unvermindert reserviert bleibe.
Warum bin ich nur so unfair ihm gegenüber? Wieso schaffe ich es nicht, die Gefühle für ihn einfach zuzulassen, Ängste loszulassen und in dieser wunderbaren Beziehung aufzugehen? Ich meine, es ist ja auch gar nicht schlimm, dass diese derzeit nur auf Sex und einer ziemlich guten Freundschaft basiert. Oder? Wie viele Pärchen haben nicht einmal das?
Herrgott, mein gesamtes Dasein ist in letzter Zeit, ein zum Haare raufendes Dilemma. Wem mache ich überhaupt etwas vor? Ich benutze Sean! Benutze ihn so, wie man absolut niemanden benutzen sollte. Und das ist ein verdammt guter Grund, um sich so schäbig zu fühlen, wie es bei mir der Fall ist.
Die Sache mit Tyler ist klar: Ich bin wie programmiert darauf, ihm zu verzeihen und stets daran zu glauben, dass wir das perfekte Pärchen sind. Und dazu gehört auch der Glaube an seine Worte, dass er der Einzige ist, der mich wirklich liebt.
Wie oft bin ich gegangen, habe die Tür hinter mir zugeschlagen, mit dem Vorhaben, ihm nie wieder eine Chance zu geben und tat dies doch?
Es gab überhaupt so viele ›Aber‹, dass es selbst einem nicht gerade sehr schlauen Menschen ausgereicht hätte, um einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Ich scheine aber im Bezug auf Liebesangelegenheiten noch unterbelichteter zu sein, als ein in völliger Isolation aufgewachsener Schimpanse.
Ab und zu - und dies ist eindeutig so ein Moment - möchte ich die Verantwortung für mich, mein Leben und meine Taten, an jemanden abgeben. Einfach wieder Kind sein, die Möglichkeit haben, mich in mein Zimmer zu verschanzen, auszuschlafen, sich mit Schokoeis vollzustopfen und bis spät in die Nacht irgendwelche dummen Filme anzuschauen. An einem windigen Sonntag in der Früh aufzustehen, mit dem Rad bis zu den großen Feldern zu fahren und dort so lange Drachen steigen zu lassen, bis einen der Hunger übermannt.
Verdammt!
Hätte mir irgendjemand gesagt, dass ich genau das vermissen werde, sobald ich mein zwanzigstes Lebensjahr erreiche, ich hätte ihn hundertprozentig für verrückt erklärt.
An meinem Auto angekommen, steige ich lustlos ein, lasse sofort ein Fenster runter und zünde mir eine Zigarette an. Laute Musik dröhnt mir aus den Lautsprechern entgegen, ein lauer Wind verfängt sich in meinen Haaren und der kaum wahrnehmbare Regenduft strömt in meine Lunge. Heute allerdings, lässt mich das kalt. Ob es gleich regnet oder nicht, selbst wenn rosa Schneeflocken aus blauen Wolken fallen, werde ich dem gleichgültig gegenüber bleiben. Überhaupt frage ich mich, ob ich jemals Liebe empfinden werde. Dies ist doch das höchste aller Gefühle, etwas, was jedem gegeben sein sollte. Es gibt letzten Endes sogar solche Leute, die sogar mehrmals lieben, nur um mich macht der Liebesbote einen großen Bogen. Abgesehen von meiner Familie, liebe ich nämlich niemanden. Ich kann den anderen Menschen in meinem Umfeld weder genug vertrauen, noch glauben, dass sie mich zurücklieben könnten. Ein Dilemma, welches mich beizeiten sogar um den Schlaf bringt.
Manchmal frage ich mich zudem, ob es bei einem Kind genauso wäre. Ebenso, wie jetzt, meine ich.
Mit der gesamten Kraft meiner Vorstellungskraft stelle ich mir vor, wie ein kleines Wesen in mir heranwächst, wie ich dieses auf die Welt bringe und an mich schmiege ... Und auch wenn die Bilder wirklich farbenfroh sind, kann ich mir die Seelenregungen beim besten Willen nicht vorstellen. Da gibt es nichts in meiner
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