Mein Leben Ohne Gestern
änderte ihren Sprechgesang.
»Blaue Tasche, blaue Tasche, blaue Tasche.«
Sie fand sie auf dem Küchentresen, mit dem Handy darin, aber ausgeschaltet. Vielleicht kam das Geräusch von einer Autoalarmanlage, die irgendwo draußen ein- oder ausgeschaltet wurde. Sie setzte sich wieder auf die Couch und schlug Dans Doktorarbeit auf Seite sechsundzwanzig auf.
»Hallo?«, fragte die Stimme eines Mannes.
Alice sah auf, mit weit aufgerissenen Augen, und lauschte, als sei sie soeben von einem Geist gerufen worden.
»Alice?«, fragte die körperlose Stimme.
»Ja?«
»Alice, bist du so weit?«
John tauchte in der Wohnzimmertür auf, mit erwartungsvoller Miene. Sie war erleichtert, brauchte aber mehr Informationen.
»Wir müssen los. Wir sind mit Bob und Sarah zum Essen verabredet, und wir sind schon ein bisschen spät dran.«
Essen. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie am Verhungern war. Sie konnte sich nicht erinnern, heute schon etwas gegessen zu haben. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie Dans Doktorarbeit nicht lesen konnte. Vielleicht musste sie nur etwas essen. Aber der Gedanke an Abendessen und Unterhaltung in einem lauten Restaurant laugte sie noch mehr aus.
»Ich will nicht essen gehen. Ich hatte einen anstrengenden Tag.«
»Ich hatte auch einen anstrengenden Tag. Jetzt lass uns schön zusammen essen gehen.«
»Geh du nur. Ich bleibe lieber zu Hause.«
»Jetzt komm schon, es wird bestimmt lustig. Wir sind schon nicht auf Erics Party gegangen. Es wird dir guttun, aus dem Haus zu kommen, und ich weiß, dass sie dich gern sehen würden.«
Nein, das würden sie nicht. Sie werden erleichtert sein, dass ich nicht dabei bin. Ich bin ein Elefant im Zimmer, aus rosa Zuckerwatte. In meiner Gegenwart fühlen sich alle unwohl. Mit mir wird das Abendessen zu einer verrückten Zirkusnummer, alle jonglieren ihr nervöses Mitgefühl und krampfhaftes Lächeln mit ihren Cocktailgläsern, Gabeln und Messern .
»Ich will nicht. Sag ihnen, es tut mir leid, aber mir ist einfach nicht danach.«
Piep, piep.
Sie sah, dass John das Geräusch ebenfalls hörte, und sie folgte ihm in die Küche. Er öffnete die Tür der Mikrowelle und holte einen Becher heraus.
»Der ist ja eiskalt. Soll ich ihn für dich aufwärmen?«
Sie musste sich den Tee heute Morgen gemacht haben, und dann hatte sie vergessen, ihn zu trinken. Und dann musste sie ihn in die Mikrowelle gestellt haben, um ihn wieder aufzuwärmen, und dort vergessen haben.
»Nein danke.«
»Na schön, Bob und Sarah warten vermutlich schon auf uns. Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«
»Ich bin mir sicher.«
»Ich werde nicht lange wegbleiben.«
Er küsste sie, und dann ging er ohne sie. Sie stand in derKüche, wo er sie für lange Zeit allein ließ, und hielt den Becher mit kaltem Tee in ihren Händen.
Sie war auf dem Weg ins Bett, und John war noch immer nicht von seinem Essen zurück. Das blaue Licht des Computers, das im Arbeitszimmer schimmerte, erregte ihre Aufmerksamkeit, bevor sie nach oben ging. Sie ging hinein und öffnete ihr Posteingangsfach, eher aus Gewohnheit als aus echter Neugier.
Da waren sie.
Liebe Alice,
mein Name ist Mary Johnson. Ich bin 57, und bei mir wurde vor fünf Jahren FTD diagnostiziert. Ich lebe am North Shore,
also nicht allzu weit von Ihnen entfernt. Das ist eine wirklich wundervolle Idee. Ich würde sehr gern kommen. Mein Mann Barry wird mich hinfahren, aber
ich denke, er wird vermutlich nicht bleiben wollen. Wir sind beide frühpensioniert und den ganzen Tag zu Hause, und ich denke, er hätte gern einmal
eine Pause von mir.
Bis bald,
Mary
Hi, Alice,
ich bin Dan Sullivan, 53 Jahre alt, und bei mir wurde vor drei Jahren die früh einsetzende Alzheimer-Krankheit diagnostiziert. Es
liegt bei mir in der Familie. Meine Mutter, zwei Onkel und eine meiner Tanten hatten sie, und vier meiner Cousins haben sie auch. Daher habe ich diese
Sache immer kommen sehen und seit meiner Kindheit in meiner Familie damit gelebt. Komischerweise ist mir die Diagnose oder das jetzige Leben mit der
Krankheit dadurch nicht leichter gefallen. Meine Frau weiß, wo Sie wohnen.Nicht weit vom MGH. In der Nähe von Harvard. Meine
Tochter hat in Harvard studiert. Ich bete jeden Tag, dass sie diese Krankheit nicht bekommt.
Dan
Hi, Alice,
danke für Ihre E-Mail und Ihre Einladung. Bei mir wurde vor einem Jahr die früh einsetzende Alzheimer-Krankheit diagnostiziert,
genau wie bei Ihnen. Es war fast eine Erleichterung. Ich dachte
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