Mein Leben Ohne Gestern
Leben offen, und sie wollen mich haben.«
»Ich will, dass sie die Zwillinge sehen kann«, sagte Anna.
»New York ist nicht so weit weg. Und es gibt schließlich keine Garantie, dass ihr alle in Boston bleiben werdet.«
»Ich könnte dort sein«, sagte Lydia.
Lydia stand im Türrahmen zwischen dem Wohnzimmer und der Küche. Alice hatte sie dort nicht gesehen, bevor sie das Wort ergriff, und sie erschrak über ihre plötzliche Anwesenheit am Rande ihres Blickfelds.
»Ich habe mich für die New Yorker Uni, Brandeis, Brown und Yale beworben. Wenn ich an der NYU genommen werde und du mit Mom in New York bist, dann könnte ich bei euch wohnen und euch helfen. Und wenn ihr hierbleibt und ich nach Brandeis oder Brown komme, dann kann ich auch in eurer Nähe sein«, sagte Lydia.
Alice wollte Lydia sagen, dass das alles exzellente Universitäten waren. Sie wollte sie fragen, welche Studiengänge sie ammeisten interessierten. Sie wollte ihr sagen, dass sie stolz auf sie war. Aber ihre Gedanken bewegten sich heute zu langsam von der Idee bis zu ihrem Mund, als müssten sie meilenweit durch schwarzen Flussschlamm schwimmen, bevor sie auftauchen konnten, um gehört zu werden, und die meisten von ihnen ertranken irgendwo unterwegs.
»Das ist ja toll, Lydia«, sagte Tom.
»Und damit ist die Sache für dich erledigt, oder was? Du wirst einfach dein Leben weiterleben, als hätte Mom gar kein Alzheimer, und wir haben kein Wort mitzureden?«, fragte Anna.
»Ich bringe jede Menge Opfer«, sagte John.
Er hatte sie immer geliebt, aber sie hatte es ihm auch leicht gemacht. Sie hatte die gemeinsame Zeit, die ihnen noch blieb, als kostbare Zeit angesehen. Sie wusste nicht, wie lange sie noch durchhalten konnte, aber sie hatte sich davon selbst überzeugt, dass sie ihr Forschungsjahr noch schaffen konnte. Ein letztes gemeinsames Forschungsjahr. Das würde sie um nichts in der Welt aufgeben.
Er offenbar schon. Wie konnte er das tun? Die Frage toste unbeantwortet durch den schwarzen Flussschlamm in ihrem Kopf. Wie konnte er? Die Antwort, die sie fand, trat sie hart hinter die Augen und erstickte ihr Herz. Einer von ihnen würde alles opfern müssen.
Alice, beantworte die folgenden Fragen:
Welchen Monat haben wir?
Wo wohnst du?
Wo ist dein Büro?
Wann ist Annas Geburtstag?
Wie viele Kinder hast du?
Wenn du Probleme damit hast, eine dieser Fragen zu beantworten, dann geh zu der Datei mit dem Namen „Schmetterling« auf deinem Computer und folge unverzüglich den dortigen Anweisungen.
Dezember
Harvard Square
Harvard
April
drei
JANUAR 2005
»Mom, wach auf. Wie lange schläft sie jetzt schon?«
»Ungefähr achtzehn Stunden.«
»Ist das schon mal passiert?«
»Ein paarmal.«
»Dad, ich mache mir Sorgen. Was, wenn sie gestern zu viele von ihren Pillen genommen hat?«
»Nein, ich habe in ihren Fläschchen und ihrem Pillenspender nachgesehen.«
Alice konnte sie reden hören, und sie konnte verstehen, was sie sagten, aber sie war nur mäßig interessiert. Es war, als würde sie ein Gespräch zwischen zwei Fremden über eine Frau mit anhören, die sie nicht kannte. Sie hatte nicht das Bedürfnis aufzuwachen. Ihr war nicht bewusst, dass sie schlief.
»Ali? Kannst du mich hören?«
»Mom, ich bin’s, Lydia. Kannst du aufwachen?«
Die Frau namens Lydia redete davon, einen Arzt rufen zu wollen. Der Mann namens Dad redete davon, die Frau namens Ali noch ein bisschen schlafen zu
lassen. Sie redeten davon, mexikanisches Essen zu bestellen und zu Hause zu Abend zu essen. Vielleicht würde der Geruch von Essen im Haus die Frau namens
Ali aufwecken. Dann verstummten die Stimmen. Alles war wieder dunkel und still.
Sie ging einen sandigen Weg entlang, der in einen dichten Wald führte. Über ein paar Serpentinenpfade stieg sie bergauf, ließ den Wald hinter sich und erreichte eine steile, freie Klippe. Sie trat an den Rand und sah hinaus. Der Ozean unter ihr war zugefroren, seine Küste unter hohen Schneeverwehungen begraben. Das Panorama, das sich vor ihr erstreckte, war leblos, farblos, unerträglich still und schweigend. Sie schrie nach John, aber ihre Stimme erzeugte keinen Ton. Sie wandte sich zum Gehen, aber der Weg und der Wald waren verschwunden. Sie sah hinunter auf ihre blassen, mageren Knöchel und ihre nackten Füße. Sie hatte keine andere Wahl, also machte sie sich bereit, von der Klippe zu springen.
Sie saß in einem Liegestuhl am Strand und vergrub ihre Füße immer wieder in dem warmen, feinen
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