Mein Leben Ohne Gestern
nie zu Hause ist. Es war fast zu schwer.«
»Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte öfter hier sein. Ab nächstem Herbst werde ich näher bei dir sein. Ich hatte mir überlegt, schon jetzt zurückzukommen, aber jetzt habe ich eben eine Rolle in diesem tollen Stück bekommen. Es ist nur eine kleine Rolle, aber …«
»Schon gut. Ich wünschte auch, ich könnte dich öfter sehen, aber ich würde niemals zulassen, dass du für mich dein Leben aufgibst.«
Sie dachte an John.
»Dein Dad will nach New York ziehen. Er hat ein Angebot am Sloan-Kettering.«
»Ich weiß. Ich war dabei.«
»Ich will nicht dorthin.«
»Das hätte ich auch nicht erwartet.«
»Ich kann hier nicht weg. Die Zwillinge kommen im April.«
»Ich kann es kaum erwarten, die Babys zu sehen.«
»Ich auch nicht.«
Alice stellte sich vor, sie in ihren Armen zu halten, ihre warmen Körper, ihre winzigen, eingerollten Finger und plumpen, noch nicht ans Laufen gewöhnten Füße, ihre verquollenen runden Augen. Sie fragte sich, ob sie ihr oder John ähnlich sehen würden. Und dann der Geruch. Sie konnte es kaum erwarten, ihre entzückenden Enkelkinder zu riechen.
Den meisten Großeltern bereitete es die größte Freude, sich das Leben ihrer Enkelkinder auszumalen, die Aussicht, zu Schulaufführungen und Geburtstagspartys, Abschlussfeiernund Hochzeiten zu gehen. Sie wusste, dass sie zu Schulaufführungen und Geburtstagspartys, Abschlussfeiern und Hochzeiten nicht mehr hier sein würde. Aber sie würde hier sein, um sie zu halten und zu riechen, und sie würde einen Teufel tun und stattdessen irgendwo allein in New York herumsitzen.
»Wie geht es Malcolm?«
»Gut. Neulich sind wir in LA beim Memory Walk der Alzheimer-Gesellschaft mitgelaufen.«
»Wie ist Malcolm denn so?«
Lydias Lächeln eilte ihrer Antwort voraus.
»Er ist sehr groß, so ein Outdoor-Typ, ein bisschen schüchtern.«
»Wie ist er zu dir?«
»Er ist wirklich lieb. Er findet es toll, wie klug ich bin, er ist so stolz auf meine Schauspielerei, er gibt unheimlich an mit mir, es ist fast schon peinlich. Du würdest ihn mögen.«
»Und wie bist du zu ihm?«
Lydia dachte ein paar Augenblicke darüber nach, als hätte sie das bisher noch gar nicht getan.
»Ich selbst.«
»Gut.«
Alice lächelte und drückte Lydias Hand. Sie wollte Lydia fragen, was das für sie hieß, wollte sie bitten, sich selbst zu beschreiben, damit sie sich erinnern konnte, aber der Gedanke verpuffte zu rasch, um ihn in Worte fassen zu können.
»Wovon haben wir eben geredet?«, fragte Alice.
»Malcolm, Memory Walk? New York?«, versuchte es Lydia mit ein paar Stichworten.
»Hier in der Gegend kann ich spazieren gehen, und ich fühle mich sicher. Selbst wenn ich mich ein bisschen verlaufe, sehe ich irgendwann etwas, das mir bekannt vorkommt, und in den Geschäften kennen mich genügend Leute und zeigen mir den Weg. Das Mädchen bei Jerri’s passt immer auf meine Brieftasche und meine Schlüssel auf.
Und hier habe ich meine Freunde von der Selbsthilfegruppe. Ich brauche sie. New York könnte ich nicht mehr erlernen. Ich würde das bisschen Unabhängigkeit verlieren, das ich noch habe. Dein Dad würde rund um die Uhr arbeiten. Ich würde ihn auch noch verlieren.«
»Mom, du musst das alles Dad sagen.«
Sie hatte recht. Aber es war so viel leichter, es ihr zu sagen.
»Lydia, ich bin so stolz auf dich.«
»Danke.«
»Falls ich es vergesse, du sollst wissen, dass ich dich liebe.«
»Ich dich auch, Mom.«
»Ich will nicht nach New York ziehen«, sagte Alice.
»Das ist noch lange hin, darüber müssen wir jetzt nicht entscheiden«, sagte John.
»Aber ich will jetzt darüber entscheiden. Ich entscheide jetzt. Ich will das klarstellen, solange ich es noch kann. Ich will nicht nach New York ziehen.«
»Was, wenn Lydia dort ist?«
»Was, wenn nicht? Du hättest das mit mir unter vier Augen besprechen sollen, bevor du es den Kindern verkündet hast.«
»Das habe ich getan.«
»Nein, hast du nicht.«
»Doch, das habe ich, und zwar oft.«
»Oh, soll das heißen, ich kann mich nicht erinnern? Wie praktisch.«
Sie atmete tief durch, ein durch die Nase, aus durch den Mund, nahm sich einen ruhigen Augenblick Zeit, um aus dem kindischen Streit herauszufinden, in den sie trudelten.
»John, ich wusste ja, dass du dich mit Leuten am Sloan-Kettering triffst, aber mir war nie klar, dass sie dich für einePosition in diesem kommenden Jahr abwerben wollten. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich längst
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