Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
unabhängige Opposition geben muss. Das ist die unabdingbare Voraussetzung für eine effektive staatliche Verwaltung und eine gesunde Gesellschaft. Damit es so eine Opposition geben kann, braucht sie eine vom Staat unabhängige Finanzierung. Damals glaubte ich, dass die Machthabenden meine Position durchaus teilten, wenn auch ohne große Begeisterung. Tatsächlich wurde sie von dem Teil der Staatsmacht mitgetragen, den man später als »liberalen Flügel« bezeichnet hat. Putin aber wurde von seiner Umgebung irgendwann davon abgebracht, das politische Gleichgewicht weiter aufrechtzuerhalten.
Wenn wir von Politikern und von Politik sprechen … Das einzige Bild einer politischen Figur, das ich tatsächlich auf meinem Tisch stehen hatte, war ein Porträt von Margaret Thatcher, mit einem Zitat, das ihr zugeschrieben wird: »Wenn Sie in der Politik wollen, dass etwas gesagt wird, wenden Sie sich an einen Mann. Wenn Sie wollen, dass etwas getan wird, wenden Sie sich an eine Frau.« Ich habe großen Respekt vor Thatcher als der Person, die die Umstrukturierung des britischen Staatsapparats und der Kohleindustrie durchgeführt hat – nicht in Worten, sondern in Taten. Mir fällt in der Nachkriegszeit niemand ein, der ihr das Wasser reichen könnte. Übrigens war das auch das einzige Mal in meinem Leben, dass ich meine Möglichkeiten genutzt habe, um aus rein persönlichem Interesse jemanden kennenzulernen: So wurde ich Margaret Thatcher vorgestellt. Wir haben uns unterhalten. Sie ist wirklich eine sehr geradlinige und starke Person.
Ich bin ein Anhänger der Meritokratie, das heißt, ich bin überzeugt, dass die breite Masse, der Demos als solcher, nur regressive Tendenzen hervorbringt. Die Zustimmung der breiten Masse ist für den wahren Staatsmann eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Was ihn denn auch von einem Populisten unterscheidet. Ein Staatsmann muss eine Führungsfigur sein, er muss langfristige Tendenzen erspüren und imstande sein, die Gesellschaft zu überzeugen, die notwendigen Veränderungen zu akzeptieren.
Fängt man dagegen die Stimmungen der Masse der Bevölkerung ein und folgt ihnen, so verschafft einem das zwar in einer bestimmten Phase vielleicht große Popularität, aber die Konsequenzen sind stets unerfreulich. Die Menschen suchen immer einen Sündenbock, auch dann, wenn sie sich selbst in die Bredouille gebracht haben.
Die wesentliche Differenz zwischen Putin und mir besteht darin, welche Form der staatlichen Verwaltung wir jeweils bevorzugen und wie wir die Zukunft sehen. Er gibt einer Machtvertikale den Vorzug, und zwar einer, die real auch die Legislative und die Judikative umfasst. Von der Staatsmacht unabhängige gesellschaftliche Institutionen sind in seinen Augen überflüssig und verkomplizieren nur das System. Er glaubt an die »Handsteuerung«, und er glaubt nicht an den Rechtsstaat. Ich halte das für archaisch. Ein moderner Staat muss, wenn er wettbewerbsfähig sein will, eine komplexere Struktur aufweisen.
Er glaubt, dass man durch Mobilisierung, Kontrolle und Ordnung ein Land schaffen kann, das die Nachbarn respektieren und dessen Bürger satt und folglich zufrieden sein werden. Das mag, davon bin ich überzeugt, gewiss für eine Schafherde gelten oder für eine Gesellschaft, die einer Schafherde ähnelt. Aber die Welt hat sich verändert: Heute kommt es vor allem darauf an, Eigeninitiative und das schöpferische Potenzial des Menschen zu wecken und die daraus entstehende Energie im Sinne des gemeinschaftlichen Interesses zu nutzen. Ich nenne dieses Modell »gelenktes Chaos«.
In der Wirtschaft funktionieren alle leistungsfähigen Unternehmen nach diesem Prinzip. Auch alle modernen postindustriellen Staaten sind so aufgebaut. In einer solchen Ordnung fühlen sich selbstständig denkende und unternehmerisch veranlagte Menschen zu Hause. »Sattheit« ist für sie ein selbstverständlicher Zustand. Deshalb streben sie nach mehr.
Mich einer Sache unterordnen, mit der ich nicht einverstanden bin, die ich für schädlich halte – das würde ich nie tun, sofern mich keine Verpflichtungen binden. Und Putin gegenüber war ich zu nichts verpflichtet.
Ein Blitz aus heiterem Himmel
Im Herbst 2003, als klar war, dass sich das Problem nicht von selbst auflösen würde, wurde allen Kollegen mehrfach nahegelegt, sich um eine eventuelle Ausreise zu kümmern. Damals konnten wir uns noch nicht vorstellen, dass das Unternehmen zerstört werden würde. Wir fürchteten allenfalls,
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