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Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Chodorkowski
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reden konnte, erkundigte ich mich gegen Abend, wie es ihm ging. Man rief mir zu, es gehe ihm schlecht und er werde wohl sterben, denn nachdem sich sein Zustand zunächst gebessert hätte, liege er jetzt wieder und sei die meiste Zeit bewusstlos. Der Feldscher aber, der erste Hilfe geleistet hätte, kümmere sich nicht mehr um ihn.
    Ich bat darum, der Lagerverwaltung auszurichten, dass ich im Fall seines Todes nicht schweigen würde. Eine Stunde später war ein Arzt aus der Stadt da. Das Telefon in der Krankenstation ging nicht, und so konnte das ganze Lager zusehen, wie erst der Arzt zur diensthabenden Einheit rannte und dann (das einzige Mal in der ganzen Zeit) ein Notarztwagen auf das Gelände fuhr.
    Der junge Mann wurde gerettet. Er hatte einen Milzriss und in dem Moment, als er auf dem OP-Tisch landete, wegen innerer Blutungen bereits mehr als zwei Liter Blut verloren.
    Generell ist in der heutigen »Zone« wie auch schon seinerzeit im Gulag dringend davon abzuraten, krank zu werden. Gleichzeitig sind aber auch die Chancen, ohne gesundheitliche Schäden aus dem Lager herauszukommen, minimal.
    Lässt sich der Föderale Strafvollzugsdienst ( FSIN ) ändern, ohne zugleich die allgemeine Situation im Land zu verändern? Ich weiß es nicht, aber man kann und muss es versuchen.
    Dabei sollte man nicht vergessen, dass es im heutigen Gulag verschiedene Typen von Menschen gibt. Da sind erstens, und das ist das Traurigste, die Unschuldigen. Ihr Anteil lässt sich leicht ermitteln, indem man die Anzahl der Freisprüche unserer »Basmanny-Justiz« – 0,8 Prozent – mit der Anzahl der Ermittlungsfehler vergleicht, die von den Geschworenengerichten bei uns (20 Prozent) und den Gerichten in den europäischen Ländern (15 bis 30 Prozent), wo die Qualität der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden der unseres Systems gelinde gesagt kaum nachstehen dürfte, als solche anerkannt werden. Selbst wenn man annimmt, dass ein Teil der tatsächlich begangenen Straftaten einfach nicht bewiesen wurde, ist doch jeder fünfte bis siebte Häftling unschuldig: 150000 Menschen, 150000 Schicksale, Familien, Individuen, die ihre Gesundheit eingebüßt und Jahre ihres Lebens unwiederbringlich verloren haben …
    Zweitens ist da die Gruppe der Straftäter, denen die Gesellschaft letztendlich doch zu verzeihen bereit ist und an deren sozialer Wiedereingliederung sie ein Interesse hat. Wie groß diese Gruppe ist, hängt von der allgemeinen Moral und der Humanität einer Gesellschaft ab, aber selbst im heutigen Russland macht sie schon den größeren Teil der Gefangenen aus. »Langfinger«, »Gauner«, Rowdys und Beziehungsmörder sind in den Augen unserer insgesamt grausamen Gesellschaft nicht für immer verloren. Und während es bei der ersten Gruppe von Häftlingen eher um die Rechtsprechung geht, so fällt doch die zweite Gruppe unmittelbar in den Aufgabenbereich des Föderalen Strafvollzugsdienstes.
    Das Problem verschärft sich dadurch, dass ein erheblicher Anteil der Inhaftierten schon ohne die notwendigen sozialen Fähigkeiten ankommt; bei den übrigen zerstört die »Zone«, was vorhanden war. Erstens brauchen Menschen Arbeit. Und zwar eine Arbeit, die ihnen sowohl ermöglicht, wie gewohnt täglich etwas zu leisten, als auch ihre Familien zu unterstützen, die ohne Ernährer zurückgeblieben sind (ein riesiges Problem: auf diese Weise werden Familien zusätzlich zerrüttet, es kommt zu Verwahrlosung und neuer Kriminalität), eine Arbeit, die ihnen hilft, die Klageforderungen zu bezahlen und dann, wenn sie wieder in Freiheit sind, ehrlich ihre Brötchen zu verdienen, statt sich abermals in ihren »alten Beruf« zu flüchten. Das ist natürlich keine leichte Aufgabe, besonders in unserer Zeit der Marktwirtschaft, aber eine durchaus lösbare. Vor allem aber eine, die höchste Aufmerksamkeit verdient. Denn gerade hier liegt die Ursache von 50 Prozent aller Rückfalldelikte, also von Hunderttausenden, ja Millionen neuer Straftaten, die der Gesellschaft gewaltigen Schaden zufügen. Der Geizige zahlt doppelt, und er hat Glück, wenn es dabei bleibt.
    In ähnlicher Weise muss man auch andere Probleme betrachten: die Kleidung, Treffen mit der Familie, Haftbedingungen, Bildung. Was ist uns wichtiger? Leute noch mehr zu bestrafen, denen man das Wichtigste bereits genommen hat – die Freiheit? Oder wollen wir diese Leute in ein normales Leben zurückführen? Um nicht später doppelt oder dreifach dafür zu bezahlen, dass wir das unterlassen haben? Die

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