Meine geheime Autobiographie - Textedition
ihres Lebens waren sie und ihre Mutter enge, intime Freundinnen; leidenschaftliche wechselseitige Verehrerinnen. Susy hatte einen klaren Verstand, der sie zu einer interessanten Gefährtin machte. Und neben dem klaren Verstand hatte sie ein Herz wie das ihrer Mutter. Nie ging Susy einem Interesse oder einer Beschäftigung nach, die sie nicht freudig beiseiteschob für das, was ihr auf alle Fälle kostbarer war – mit ihrer Mutter zusammen zu sein. Susy starb zur richtigen Zeit, einer begünstigten Zeit ihres Lebens; in einem glücklichen Alter – vierundzwanzig. Mit vierundzwanzig hat ein Mädchen das Leben von seiner besten Seite gesehen – das Leben als glücklichen Traum. Nach diesem Alter beginnen die Risiken;kommt die Verantwortung und mit ihr die Sorgen, die Schmerzen, die unvermeidliche Tragödie. Ihrer Mutter zuliebe hätte ich sie aus dem Grab zurückgeholt, wenn ich es denn vermocht hätte, nicht mir zuliebe.
Aus Susys Biographie
Dann hatte Papa seine öffentliche Lesung; an jenem Donnerstagnachmittag lasen auser Papa noch viele andere Autoren; ich wäre gerne hingegangen, um Papa lesen zu hören, aber Papa sagte, in Vassar wird er genau das Gleiche lesen wie in New York, und so blieb ich mit Mama zu Hause.
Ich glaube, es war die erste Anwendung einer neuen und teuflischen Erfindung – einer Sache namens Autorenlesung. Dieser Hexensabbat fand in einem Theater statt und begann um zwei Uhr nachmittags. Auf der Liste standen neun Autoren, und ich meine, ich war der Einzige, der durch Erfahrung qualifiziert war, die Sache vernünftig anzugehen. Dank meiner alten Bekanntschaft mit der Multiplikationstabelle wusste ich, dass neun mal zehn neunzig macht und mithin die durchschnittliche Zeitspanne, die jedem Autor zustand, auf zehn Minuten beschränkt werden sollte. Es würde einen Moderator geben, der von seinem Handwerk nichts verstand – auf diesen fatalen Umstand konnte man sich mit Sicherheit verlassen. Der Moderator würde ignorant, geschwätzig und wortgewandt sein und dazu neigen, am liebsten sich selbst reden zu hören. Neben seinen Vorbemerkungen würde er neun Autoren vorstellen müssen – nun, ich konnte diese grauenvollen Berechnungen nicht fortsetzen; ich ging davon aus, dass uns Probleme ins Haus standen. Ich hatte darum gebeten, als sechster an die Reihe zu kommen. Als sich der Vorhang hob und ich sah, dass der Halbkreis von Barden vollzählig versammelt war, änderte ich meinen Plan. Ich befand, dass ich mit meiner Bitte um den sechsten Platz alles Nötige unternommen hatte, um in den falschen Ruf der Bescheidenheit zu gelangen, und dass nichts gewonnen wäre, wenn ich ihn bis zum Äußersten triebe; der Ruf hatte seinen Zweck erfüllt, und jetzt war es an der Zeit, ihn hinter sich zu lassen und sich wacker zu schlagen. So bat ich darum, an die dritte Stelle vorrücken zu dürfen, und mein Gebet wurde erhört.Die Vorstellung begann um Viertel nach zwei, und ich, die Nummer drei auf einer Liste von zehn (wenn wir den Moderator mitzählen), wurde erst um Viertel nach drei aufgerufen. Meine Lesepassage dauerte zehn Minuten. Die ursprünglich ausgewählte war zwölf Minuten lang gewesen, und ich hatte eine gute Stunde gebraucht, um Möglichkeiten zu finden, sie um zwei Minuten zu kürzen, ohne ihre Wirkung zu beeinträchtigen. Nach zehn Minuten war ich durch. Dann zog ich mich auf meinen Sitzplatz zurück, um die Qualen des Publikums auszukosten. Das tat ich auch ein, zwei Stunden lang; dann war alle Grausamkeit in meiner Natur erschöpft, und meine angeborene Menschlichkeit trat wieder hervor. Um halb sechs war ein Drittel der Leute eingeschlafen; ein zweites Drittel lag im Sterben; der Rest war tot. Ich nahm den Hinterausgang und ging nach Hause.
Autorenlesungen wurden auch nach diesem Ereignis mehrere Jahre lang fortgeführt. Hin und wieder versammelten wir uns in Boston, New York, Philadelphia, Baltimore und Washington und geißelten das Volk. Es erwies sich als unmöglich, denjenigen, die diese Orgien veranstalteten, Vernunft einzutrichtern. Als ebenso unmöglich erwies es sich, den Autoren Vernunft einzutrichtern. Einmal fuhr ich nach Boston, um bei einer jener Feiern auszuhelfen, die Mr. Longfellow zum Gedenken in die Wege geleitet worden waren. Ständiges Mitglied dieser traurigen Veranstaltungen war Howells, dem ich nicht beibringen konnte, seine vorgeschlagene Textpassage mit Hilfe einer Uhr einzuüben und auf eine angemessene Länge zu kürzen. Er schien es einfach
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