Meine Kinderjahre
von Minuten. »Vorwärts.« Aber die Pferde konnten kaum noch, und immer langsamer mahlte der Wagen in dem tiefen Sande. Trotzdem schien alles gut für uns ablaufen zu sollen, das Unwetter gab uns erneuert eine Frist, und als wir unser Haus und die Kirche schon in Sicht hatten, war noch kein Tropfen Regen gefallen. Im selben Augenblicke jedoch, wo wir hielten, gab es Blitz und Schlag zugleich, so mächtig, daß wir erschreckt in unsere Sitze zurückfielen; es mußte ganz in der Nähe eingeschlagen haben, und wolkenbruchartig stürzte der Regen auf uns nieder.
In der Gehilfenstube, soviel sahen wir wohl, war Licht, aber niemand kam, um uns behilflich zu sein, und zu rufen oder mit der Peitsche zu knipsen, konnte bei dem Wetter, das tobte, nicht viel helfen. Ich sprang also vom Bock und half meiner Mutter und den Geschwistern, so gut es ging, aber trotzdem, als wir kaum zwei Minuten später in den dunklen Hausflur eintraten, waren wir total durchnäßt und stapften auf den Fliesen umher, um den Regen abzuschütteln. Aus der Küche kam jetzt eins der Mädchen, einen Blaker in der Hand. »Gott, Madame ...« Aber unser in seine Whistpartie vertiefter Vater erschien noch immer nicht und wurde erst sichtbar, als meine Mutter, die mit einem Male klar in der Sache sah, die zur Gehilfenstube führende Tür hastig aufriß und mit nicht mißzuverstehender Ausgesprochenheit hineinrief: »Guten Abend, Louis; wir sind da.«
»Nun, das ist ja gut; eben muß es eingeschlagen haben.«
Und während er diese Betrachtungen anstellte, legte er die letzten Trumpfkarten auf den Tisch und sagte: »Drei Trick, macht einen Rubber von sieben; Doktor, Sie geben.«
An Begrüßung war nicht zu denken, und meine Mutter zog sich empört in ihre Stube zurück.
Und nun sollten wir zu Bett gebracht werden; ich bat aber, aufbleiben zu dürfen, was mir auch gewährt wurde. Das Gewitter – eins von den ganz schweren, wie sie sich auf Inseln einstellen, wo der einschließende Wassergürtel sie festhält – nahm inzwischen seinen Fortgang. Mich fröstelte, und ich wußte nicht recht, wo ich hin sollte. Da stahl ich mich unbemerkt wieder nach vorn in die Stube, wo die vier Whistspieler noch immer saßen und dann und wann in ihrer Spielerregung so scharf auf die Tischkante schlugen, daß die Glasmanschetten auf den Messingleuchtern schwirrten und klirrten. Die Lichter waren fast schon niedergebrannt. »Ich denke noch einen Rubber.« Und dabei fuhr mein Vater mit dem Daumen über die Seitenwand der wieder zusammengerafften Karten. »Nimm ab, Werkenthin.« Ein greller Schein leuchtete durch die Ritze der Fensterladen, und mir war, als müsse der Blitz zwischen die Spieler fahren. Das Wetter war aber schon im Schwinden, und ich ging in meine Kammer, wo meine Geschwister bereits schliefen. Was eine halbe Stunde später drüben auf der andern Seite des Flurs zur Sprache kam, lag mir zum Glück außer Hörweite.
Wenn ich nicht irre, war es in demselben Jahre, daß die Herbsttage mit starkem Sturm einsetzten, und als wir Kinder eines Abends auf Schemeln und Fußbänken in der Küche saßen, um uns an dem großen Herdfeuer zu warmen, erschien mit einem Male mein Vater und sagte: »Nun wird es Ernst; der Wind steht gerade auf die Molen, und kein Tropfen Wasser kann heraus. Bleibt es so, so können wir morgen Kahn fahren, oder vielleicht sitzen wir auch auf dem Dach.« Er glaubte es alles selber nicht recht, aber etwas, was vom Alltäglichen abwich, in Sicht zu stellen, war ihm ein besonderes Vergnügen, und wir Kinder waren, wenigstens in diesem Stück, alle so sehr nach ihm geartet, daß wir ihm Dank dafür wußten und unsere Mutter nicht begriffen, die von solcher Phantasiebelastung nie was wissen wollte.
»Können wir untergehen?« fragte ich.
»Ja, mein lieber Junge, wer will so was sagen. Möglich ist alles. Übrigens ist es ein Glück, daß unsere Küste den Alluvialcharakter hat, kein ewiges Rumoren in der Erde, nichts Feuerspeiendes. Andre Gegenden sind schlimmer daran. In Caracas, einer südamerikanischen Stadt, deren Einwohnerzahl nicht genau feststeht, hat neulich eine Welle eine französische Brigg gepackt und von der Reede her auf den großen Marktplatz der Stadt gestellt. Und dann zog sich die Welle wieder zurück und ließ die Brigg genau da, wo sie stand, so daß die Bewohner von Caracas hinaufsteigen und den französischen Kapitän besuchen konnten. Das ist aber nur, weil da alles vulkanisch ist; gerade da, wo das Schiff vor Anker lag,
Weitere Kostenlose Bücher