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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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Osteuropa, zumal Hunderttausender Deutscher, die seit langer Zeit auf eine Ausreiseerlaubnis warteten. Auch andere Regierungen im Europäischen Rat waren besorgt über die Gefährdung des Entspannungsprozesses, die von der Carterschen Menschenrechtspolitik ausging. Wir Europäer hatten von vornherein gesehen, daß der Korb Drei der Helsinki-Schlußakte nur bei günstiger politischer und ökonomischer Entwicklung Osteuropas verwirklicht werden konnte – und selbst dann nur sehr langsam und schrittweise. Wir hofften auf eine allmähliche Ausweitung der Bewegungsfreiheit der Regierungen in Warschau, Budapest, Prag oder Ost-Berlin; wir befürchteten einen Rückfall in die brutale Handhabung der Breschnew-Doktrin. Nur zu deutlich erinnerten wir uns an Budapest 1956, Prag 1968, an Dubček und die Machtlosigkeit des Westens in solchen Situationen.
    Als im Frühjahr 1977 Jimmy Carter die im Präsidentschaftswahljahr unterbrochenen SALT-Verhandlungen wieder aufnahm, entsandte er zunächst seinen Außenminister Cyrus Vance zu den Regierungen der wichtigsten europäischen Verbündeten. Vance kannte Europa und die Welt gut, er hatte schon früher operative Aufgaben auf internationalem Feld wahrgenommen. Viele europäische Politiker, darunter ich selbst, hatten Vance lange vor seinem Amtsantritt schätzengelernt. Er war kenntnisreich, offen für die Interessen anderer, ein gewichtiges Mitglied des New Yorker Council on Foreign Relations, erfahren im internationalen Umgang, zuverlässig – und in seinen Umgangsformen ein Gentleman.

    Vance hatte einen offenkundig unerfüllbaren Auftrag: Er sollte den Kreml dazu überreden, über die zwischen Ford und Breschnew gut zwei Jahre zuvor in Wladiwostok erzielten gemeinsamen Absichtserklärungen zu SALT II weit hinauszugehen. Die beiden Staatslenker hatten das SALT I Interim Agreement über nuklearstrategische Angriffswaffen, das im Herbst 1977 auslief, durch einen mittelfristigen Vertrag ersetzen wollen; dies wollte auch Carter. Aber Carter strebte jetzt wesentlich stärkere Reduzierungen der Arsenale beider Seiten an, als man sie in Wladiwostok ins Auge gefaßt hatte.
    Ich hatte große Sorgen, daß dies die Stellung Breschnews erschweren würde. Er war nicht nur der im Kreml für SALT wichtigste Mann, er war auch derjenige gewesen, der in Wladiwostok die sowjetische Kompromißbereitschaft herbeigeführt hatte; auf seinen Willen und Einfluß war auch Carter angewiesen. Meiner Einschätzung nach durfte Breschnew in den Augen seiner Politbürokollegen nicht desavouiert werden. Wer durch die Menschenrechtskampagne die Sowjetführung fortwährend bloßstellte, konnte kaum hoffen, sie über alte Verabredungen zur Begrenzung der Rüstungen hinaus für eine tatsächliche Abrüstung zu gewinnen.
    Ich sagte Vance, die Sowjets würden konsterniert sein; hinter den Gedankengängen Carters, die ihnen unverständlich bleiben müßten, würden sie Absichten wittern, die sie nicht entziffern könnten – und infolgedessen würden sie die Vorschläge ablehnen. Vance schien mir insgeheim zuzustimmen, aber er hatte eine klare Weisung seines Präsidenten erhalten, tief einschneidende Kürzungen (»deep cuts«) im beiderseitigen Waffenarsenal anzustreben. Er sollte dem Kreml zu diesem Zweck einen neuen, umfassenden Entwurf vorlegen.
    Tatsächlich kam es kurz darauf bei Vance’ Besuch in Moskau zu der erwarteten Reaktion des Kreml: Breschnew und Gromyko beharrten auf den in Wladiwostok erzielten Vereinbarungen und machten keinerlei Gegenvorschläge zu Carters idealistischen Plänen. Der amerikanische Präsident erlitt eine Niederlage, zumal er seine Vorschläge schon vor dem Moskauer Treffen absichtlich an die Öffentlichkeit hatte gelangen lassen und dabei besonders
die Notwendigkeit einer Verminderung der überschweren Langstreckenraketen hervorhob. Das aber war gerade die Waffenkategorie, in der die Sowjets deutlich überlegen waren; wie sollten sie ohne eigenen Vorteil auf anderem Felde darauf verzichten?
    Der Fehlschlag des Carterschen »deep-cuts«-Vorschlages brachte ihn in ein doppeltes Dilemma; zum einen mußte er jetzt eine neue Konzeption erarbeiten, zum anderen hatte er allen SALT-Gegnern in Washington einen Maßstab vorgegeben, an dem sie wenig später, 1979, sein im Ergebnis deutlich schwächeres SALT-II-Abkommen messen konnten – um es dann einfach zu verwerfen.
    Noch im gleichen Jahr 1977 gab Carter den amerikanischen SALT-Gegnern ein weiteres Argument an die Hand: Er strich das Programm

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