Menschen und Maechte
SALT II zu warten und ehe es zu SALT III komme, mit den Amerikanern bilateral über die Begrenzung der nuklearen Mittelstreckenwaffen einschließlich der vorgeschobenen Nuklearsysteme (Forward Based Systems, FBS) zu verhandeln.
Die Russen hatten also ihr Nein vom Vortag und ihr Nein seit dem NATO-Doppelbeschluß zurückgenommen – war das der Durchbruch? Ich ließ mir meine Genugtuung nicht anmerken, sondern stellte Fragen und bat um Präzisierung: »Sie nennen beispielhaft nur amerikanische FBS. Sie nennen nicht die französischen, englischen und chinesischen Mittelstreckenwaffen. Heißt das, daß diese die Situation nicht berühren?« Gromykos Antwort: »Es geht um die amerikanischen FBS. Die britischen, französischen und chinesischen Waffen sind nicht einbezogen, weil die Mittelstreckenraketen [die im NATO-Beschluß gemeint sind] amerikanische Raketen sind. Eine andere Sache ist SALT III; dort werden wir alle Komponenten behandeln. Aber hier ist an einen engen Rahmen gedacht.«
Ich wiederholte sehr genau, was gesagt worden war, und fügte als Bemerkung hinzu: »Das bedeutet natürlich den Einschluß von SS 20, SS 4, SS 5 und Backfire.« Gromyko – nach einem kurzen Meinungsaustausch mit Breschnew – trocken: »Man sagt, der Appetit kommt beim Essen.« Der Verzicht auf Widerspruch oder eine Einschränkung an dieser Stelle machte klar: das alles war keine psychologische Geste.
Ich antwortete: »Ich werde Ihren Vorschlag Präsident Carter übermitteln. Herr Genscher wird schon morgen nach Washington fliegen … Je eher es zu solchen Verhandlungen kommt, um so glücklicher wären wir Deutschen … Wir fühlen uns bedroht durch die schnelle sowjetische Mittelstreckenwaffenrüstung. Zwar glauben wir nicht, daß Sie sie im Kriege anwenden wollen, aber wir fürchten sie als Mittel politischen Drucks. Ich benutze übrigens das Wort Mittelstreckenwaffen nur ungern, denn es sind strategische Waffen, welche mein Land strategisch bedrohen …«
Nun endlich, im Sommer 1980, hätten die im NATO-Doppelbeschluß vorgeschlagenen Verhandlungen beginnen können. Ein
halbes Jahr war durch die sowjetische Verweigerung vergeudet worden. Aber nun wurde infolge des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes ein weiteres halbes Jahr verschenkt. Als im November 1980 Ronald Reagan gewählt worden war, mußte man ihm das übliche halbe Jahr zur Einarbeitung seiner Administration zubilligen. Tatsächlich aber verging fast das ganze Jahr 1981, bis endlich die Mittelstreckenwaffen-Verhandlungen unter dem neuen Kürzel INF (Intermediate Nuclear Forces) am 30. November in Genf begannen. Zwei Jahre waren seit dem Doppelbeschluß verstrichen, fast drei Jahre seit Guadeloupe und vier Jahre seit jenem Londoner Vortrag vor dem International Institute of Strategic Studies, in dem ich solche Verhandlungen zum ersten Mal öffentlich gefordert hatte.
Die westeuropäischen Regierungen hatten die Verhandlungen seit Dezember 1979 gewollt, denn sie waren es, die strategisch und existentiell von den nuklearen Mittelstreckenwaffen bedroht waren; die Verhandlungsführung aber war Sache der beiden Supermächte. Im November 1983 ließen Moskau und Washington die INF-Verhandlungen ergebnislos scheitern. Das Weiße Haus hat unter Reagan kein hinreichendes eigenes Interesse erkennen können; und der Kreml glaubte, inzwischen einen ausreichenden Rüstungsvorsprung bei diesen neuen eurostrategischen Waffen erreicht zu haben. Seit Guadeloupe hatte es in Paris, in Bonn und in London Regierungswechsel gegeben; der Vorrat an gemeinsamen strategischen Grundvorstellungen der westeuropäischen Staaten war inzwischen einem Mangel an Gemeinsamkeit gewichen, und der Gewichtsverlust Europas gegenüber Washington nach 1981 zeitigte im Laufe der Jahre einen noch prekäreren Gewichtsverlust Westeuropas gegenüber Moskau.
Von diesem Gewichtsverlust, der in wenigen Jahren Wirklichkeit werden sollte, war im Juli 1980 in Moskau nichts zu spüren, im Gegenteil. Unser Besuch kam zu einem guten Ende. Die Russen wollten als eine von zwei gleichberechtigten Weltmächten respektiert sein, und dies war ihnen keineswegs verweigert worden. Sie hatten gehofft, den kleinen deutschen Nachbarn, den sie insgeheim zugleich auch fürchteten, zu ihren Bedingungen das Fürchten zu
lehren – und das war ihnen nicht gelungen. Wir hatten vielmehr gesagt: »Wer sich um den Frieden in der Welt sorgt, muß darauf verzichten, anderen seine eigenen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
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