Merode-Trilogie 1 - Teufelswerk: Historischer Krimi aus der Herrschaft Merode (German Edition)
eines recht wohlhabenden Bauern hatte Jakobs Liebe zu ihr ohnehin geheim bleiben müssen. Vielleicht hätte der Herr von Merode einer Verheiratung sogar zugestimmt, niemals aber Jakobs Vater: Die Schwiegertochter das Kind eines ungehobelten Köhlers? Undenkbar!
Sibylle seufzte schwermütig. Vor ihr erstreckte sich das Getreidefeld, wo sie Jakob als junges Mädchen bei der Arbeit beobachtet hatte. Meistens hatte sie in einem Gebüsch am nahen Waldrand gehockt und mit gierigen Augen den entblößten muskulösen Oberkörper des jungen Mannes bewundert. Ach, wie sehr hatte sie ihn begehrt.
Nun huschte doch ein müdes Lächeln über das faltige Gesicht der alten Hebamme. Die Freuden des Fleisches, sie lagen eine Ewigkeit zurück. Und nun plagte sie der Rheumatismus bereits im Hochsommer. Sie würde auch für sich selbst ein paar Kräuter suchen müssen. Aus Gänse-Fingerkraut würde sie sich einen Sod aufbrühen. Aber zunächst galt es Ausschau halten nach Weißdorn und Taubnesseln, nach Wundklee und nach Hirtentäschel. Denn nur Hirtentäschel taugte als Wehenmittel und vermochte Gebärmutterblutungen nach der Geburt zu stillen.
Wie immer, wenn sie Kräuter sammelte, ließ Sibylle ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen. Ach, wie hatten die Zeiten sich doch verändert, nichts war mehr wie früher. Viele Dörfler vertrauten nicht mehr auf ihre Heilkünste, sondern riefen einen Quacksalber aus der Stadt herbei, wenn sie krank wurden. So wie erst kürzlich dieser Bauer vom Hahndorn, Ludwig, dem sie einst mit ihren eigenen Händen in diese Welt geholfen hatte. Den sie als Knaben von einem hässlichen Hautausschlag befreit hatte. Dessen Schulter sie mindestens zwei Mal wieder eingerenkt hatte. Und das war nun der Dank. Aber sie hatte es damals schon gewusst: Dieser Knabe besaß das Gesicht eines Verbrechers. Recht behalten hatte sie. Verlieh Geld, der Ludwig, und nahm Zinsen, wie ein Jude. Geld! Was es aus dem Menschen machte! Doch Verbrecher von Ludwigs Sorte wurden ja längst nicht mehr zurRechenschaft gezogen. Vielleicht hatte letztlich doch der Allmächtige seine strafende Hand im Spiel, wenn er dem Kranken einen Quacksalber schickte, der nicht anderes wusste, als ihn mit sinnlosen Aderlässen zu peinigen.
Ja, früher war alles anders gewesen. Da hatten selbst die hohen Herren von Merode ihre Hilfe gesucht. Ohne sie wäre der inzwischen zur Legende gewordene Werner schon im zarten Kindesalter aus dieser Welt geschieden. Hatte beim Sturz von einem Baum schwerste Verletzungen erlitten. Als nach zwei Tagen heftiges Wundfieber auftrat und der junge Werner dem Tod näher war als dem Leben, ließen die verzweifelten Eltern das Kräuterweib herbeirufen. Eine ganze Woche lang kämpfte Sibylle mit Tinkturen gegen das Fieber und mit Wundumschlägen aus Kräutern gegen den herannahenden Sensenmann. Und siehe, der Sensenmann musste den Kampf letztlich verloren geben. Man stelle sich vor, der junge Werner wäre damals gestorben – niemals wäre ihm der heilige Matthias erschienen, niemals wäre es zu der Klostergründung im Wald gekommen. Wussten die frommen Mönche auf Schwarzenbroich überhaupt, wem sie diese Gründung am Ende in Wahrheit verdankten? Wohl nicht, denn noch nie hatte einer der Kreuzherren bei dem Kräuterweib vorgesprochen und sich bedankt. Eigentlich erwartete sie das auch nicht. Von der Menschheit, der Geistlichkeit eingeschlossen, hielt sie sowieso nicht mehr viel. Vielmehr beschäftigte sie der Gedanke, ob Werner, der fünfte Meroder seines Namens, heute noch lebte, wäre er daheim gewesen, als ihn später diese rätselhafte Krankheit ereilte. Bestimmt hätte sie ihm helfen können, davon war sie überzeugt. Aber Werner weilte fern seiner Burg in Köln, wo er dann auch starb. Sibylle schauderte bei der Vorstellung, wie die städtischen Ärzte ihn wohl behandelt haben mochten.
Die Sammlerin linste in ihren Korb. „Für heute reicht’s“, murmelte sie. Das nachlassende Tageslicht und ihre eingeschränkte Sehkraft ließen ihr ohnehin keine andere Wahl. Für einen Moment kamen ihr die Weissagungen der Auguren in den Sinn. Stand der Weltuntergang unmittelbar bevor? War das schmerzhafte Bücken und Zupfen überhaupt noch der Mühen wert? War das Kurieren und Lindern von Krankheiten und Gebrechen nicht sinnlos, wenn bald die Posaunen des Gerichts erklangen? Der gewaltsame Tod der jungen Anna – waren die Boten des Bösen bereits unterwegs, um zu ernten, was es noch zu ernten gab? Und der Schwarze Tod, der
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