MERS
verlangte eine ernsthafte Antwort. »Ich frage mich, was er ihnen vergeben zu müssen glaubte. Jungen Männern, meine ich. Ist es nicht vielmehr so, daß die alten Männer die schrecklichen Dinge tun?«
Sie sah ihn an, wie er über dem Teetablett stand. Er war selbst ein alter Mann. Aber er würde ihre Worte nicht persönlich nehmen. Nicht Julius.
Er tat’s auch nicht. »Du hast natürlich recht. Ich fürchte, mein anonymer Aphoristiker und ich haben Spaß gemacht. Die Verbrechen junger Männer beschränken sich auf Pickel sowie auf einen Übereifer, Anführern zu folgen.«
Harriet wandte sich ab, zum Fenster hin. Sie akzeptierte, daß Julius gerne angab, aber sie wünschte, er würde sie nicht soweit bringen, daß sie sich manchmal so schwer fühlte. So infantil. Nicht jung – infantil.
»Ruf doch bitte Polly für mich, Julius!«
Er trat hinter ihr hinaus auf den Balkon. »Polly?« Sein Ruf war opernhaft und ohrenbetäubend. »Polly?«
Ein Antwortgekrächz kam aus den Bäumen am anderen Ende des Gartens, und schließlich flog ein grauer Papagei torkelnd aus den Blättern. Ein Vogel, der in den kurzen Sommermonaten draußen lebte. Er flog unbeholfen heran und landete mit klappernden Klauen auf dem Balkongeländer. Er zuckte mit den Schwanzfedern, legte sie an und blickte daraufhin Julius funkelnd an, zunächst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen, wobei sein Kopf mit festen, schöpfenden Bewegungen ruckartig hin und her ging.
»Besuch für dich, Polly«, sagte er. »Besuch.«
Der Vogel gab entsprechende Laute von sich. Es war ein staubiger, sehr schlichter kleiner Papagei von unentdecktem Geschlecht (er hatte niemals Eier gelegt) mit rosafarbenen Füßen und leuchtend orangefarbenen Iris in den schmalen Augen mit den doppelten Lidern. Wie stets war Harriet sowohl fasziniert als auch abgestoßen. Sie kehrte ins Zimmer zurück und setzte sich, nahe beim Teetablett mit der Platte voller englischer Kekse, vorsichtig auf die Sofakante, damit sie nicht in den Kissen versank. Polly kletterte die Stütze eines Geländers herab und folgte ihr, mühsam einen Fuß vor den anderen setzend. Harriet zerbrach einen Keks und hielt ihr ein Stück hin. Polly nahm es mit einer Klaue und transportierte es in ihrem furchterregenden Schnabel, der aussah wie ein mittelalterliches Visier. Als sie ihn öffnete, wurde ganz kurz eine dicke, purpurfarbene Zunge sichtbar.
Julius setzte sich in den gegenüberliegenden Sessel, wobei er ihn ärgerlich in eine erträgliche Form knuffte. »Verdammtes Ding… Dein Bruder kommt heute abend nach Hause, hast du gesagt?«
Der Papagei schlich näher heran. Harriet ließ ihn nicht aus den Augen. Sie nickte. »Heute, am späten Abend.«
»Ich meine mich zu erinnern, daß es ihm in der Armee gefällt.«
»Sehr sogar.« Danno hätte wohl alles gefallen, was ihn von Mama wegbrachte. Das jedoch sprach sie nicht laut aus. Nicht einmal Julius gegenüber. »Ich glaube, er gehört gern irgendwo dazu. Und der Schneid. Regiments-Tradition – so was in der Art.«
»Wie alt ist er – zwanzig? Ist gerade das richtige Alter.«
»Er wird’s zu seiner Lebensaufgabe machen.« Sie hatte den Verdacht, daß Julius ihren Bruder herablassend behandelte. »Er macht gerade einen Kurs in fortgeschrittenen Waffensystemen.«
»Mein Gott!«
Polly hatte den Schnabel weit genug geöffnet, daß sie vorsichtig Harriets rechten Schuh packen konnte. Harriet fühlte sich von zwei Seiten attackiert. Sie redete nicht gern mit Leuten über Danno. Und Polly packte jetzt fest zu, drückte leicht ihren großen Zeh, während sie mit bösartigem Blick zu ihr heraufstarrte.
»Sie haben nach der Schule gefragt, Julius, nach Chemie. Die ist wirklich schwer. Aber wissenschaftliches Forschen, das möchte ich tun.«
»Natürlich mußt du das. Ich habe nicht überlegt. Tut mir leid.« Er hatte ihre beiden Zwangslagen bemerkt.
Nachdem er sie aus der einen befreit hatte, hievte er sich im Sessel hoch, packte Polly, hakte sie von Harriets Schuh los und brachte sie in ihren Käfig. Er schloß die Tür und verriegelte sie. Für einen so kleinen Vogel war Polly merkwürdig angsteinflößend.
Julius wandte sich wieder ihr zu. »Schwer, sagst du? So schwer, daß du dir Sorgen um den Abschluß machen mußt?«
»Nicht wirklich.« Die Abschlußprüfungen lagen Ende Juli, noch sechs Wochen hin. »Ich bin ein Jahr voraus. Es sind bloß diese neurotischen Lehrer. Sie wollen einen dazu bringen, die Beste zu sein, um sich damit auszusöhnen,
Weitere Kostenlose Bücher