Messertänzerin
Lichter aus dem Turmzimmer verschwunden. Das Glücksgefühl aber blieb und Divya sah ihnen mit Tränen in den Augen nach.
Erst langsam wurde ihr klar, dass Tajan nichts davon mitbekommen hatte. Er stand verloren mitten im Raum, als kämpfte er gegen einen bösen Albtraum, der ihn nicht aus seinen Klauen lassen wollte.
Divya nahm sanft seine Hand. Als er ihrem Blick begegnete, begriff sie, dass er heute seine alte Welt verloren hatte, wie sie vor ein paar Tagen. Aber er hatte ihr diese Welt bewusst geopfert, um ihr Leben zu retten.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Aber wir müssen fliehen.«
Er entzog ihr seine Hand und ging mit undurchdringlicher Miene auf das Fenster zu.
»Fliehen … eine ganz neue Perspektive.«
Tajan
Zu zweit kletterten sie an der Mauer hinunter, huschten durch den dunklen Garten und stiegen über den Zaun. Ihre fast lautlosen Schritte im Gleichtakt, flogen sie zu zweit über die Dächer. Der Wind schien sie beinahe gleichzeitig über die Abgründe der Stadt zu tragen, beinahe gleichzeitig berührten ihre Stiefel den Boden. Und doch war es Divya, die kaum merklich die Richtung vorgab. Ohne Worte, so als wären sie schon immer zusammen durch die Nacht gelaufen.
Es war ein berauschendes Gefühl, und Divya musste Tajan einfach immer wieder ansehen, um herauszufinden, ob er genauso empfand. Aber sein Gesicht war konzentriert. Als wären seine Gedanken weit fort. Als würde er ihren Gleichklang nicht spüren. Dabei war sein Fliegen genauso losgelöst wie ihres.
Kurz vor der Morgendämmerung erreichten sie ihr Ziel. Divya hatte den Turm vor zwei Tagen entdeckt und dort bereits zweimal die Nacht verbracht. Sie war gespannt, ob ihr Versteck Tajan gefiel, denn es war das erste, in dem sie sich richtig wohlfühlte. Fern von den Rebellen, mit denen sie zwar zusammenarbeitete, von denen sie sich aber nie wieder lenken lassen wollte. Das Schönste war die Aussicht: Der alte Turm, Teil eines leer stehenden Palastes, ragte über die Dächer der Nachbarhäuser hinaus. Er war früher vermutlich einmal fensterlos gewesen, aber ein Stück der Ostwand war weggebrochen, sodass Divya entweder hinterder Wand Schutz vor Wind und Wetter suchen oder es sich in klaren Nächten direkt vor dem Loch bequem machen konnte, um im Liegen über die Dächer und in die Sterne zu blicken. Eine Decke bewies, dass sie genau das in der letzten Nacht getan hatte.
Tajan, anscheinend blind für die Schönheit dieses Ortes, deutete auf die Decke. »Hier lebst du also?«
Divya ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken.
»Leben? Ich weiß nicht, ich habe zwei Nächte hier geschlafen.«
»Allein?« Tajan runzelte die Stirn. »Oder braucht ihr nur noch eine Decke …?
Divya überlegte, was er meinte. Roc? Hatte er ihn hier erwartet? Eine leichte Röte überzog ihre Wangen, als sie begriff.
»Du kennst mich so gut. Und trotzdem traust du jedem Anschein mehr als unserer … Freundschaft.«
Sie legte eine Hand auf die dunklen Ziegel, hinter denen soeben der Sonnenaufgang begann. Das orangefarbene Licht flutete langsam vom Horizont aus über die Ebene und erreichte bereits die ersten Ausläufer der Stadt.
»Jedem Anschein? Nicht schlimm genug, dass es der Fürst war, auf den du deinen Anschlag verübt hast, nein, du musstest auch noch meine Methoden anwenden! Weißt du, wie ich mich gefühlt habe? Ich bringe dir das Messerwerfen bei und du tötest damit fast meinen Herrn!«
Divya atmete scharf ein. »Warum hast du mich dann heute nicht verhaftet? Du hältst mich doch für eine Mörderin. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat es dir gereicht, dass ich eine Tassari bin. Schon deshalb wolltest du mich verhaften lassen, und heute lässt du mich laufen?«
Divya sah ihm ins Gesicht, obwohl sie fürchtete, Hass darin zu lesen. Aber sie fand etwas ganz anderes. Etwas Verletztes.
»Ich wollte dich verhaften lassen? Wann?«, fragte er empört.
»An dem Tag, an dem ich die Schule verlassen habe«, erwiderte Divya eindringlich.
Tajan schüttelte den Kopf. »Wer auch immer dir das erzählt hat …« Auf einmal zog er die Augenbrauen hoch. »Maita? Ich glaube, sie wusste, dass wir uns trafen. Weißt du … Ich war an der Schule, um Maita zu beobachten. Wir haben lange vermutet, dass sie zu den Rebellen gehört, aber wir konnten ihr nichts nachweisen.«
»Dann war das mit der Verhaftung gelogen?«, murmelte Divya. »Aber der Einbruch! In diesem Punkt hat sie doch die Wahrheit gesagt! Der Einbrecher hat mit dir
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