Mick Jagger: Rebell und Rockstar
geschah, oder er konnte seine Stiefel anziehen und selbst auf die Straße hinuntergehen, wo junge Leute Transparente hochhielten und die einen »Ho Ho Ho Chi Minh« schrien, während die anderen »Anarchie!« brüllten.
Die Demonstranten fesselten ihn. Ein Teil ihrer Begeisterung hatte ihren Ursprung in den Seminarräumen der London School of Economics. Auch Faithfull wird sein Interesse zu einem gewissen Grad beeinflusst haben. »Ich stamme aus einer sehr linken, sozialistisch eingestellten Familie«, erklärte sie mir und fügte hinzu, dass sie sich als Musikerin »immer für revolutionäres Material interessiert« habe.
Tariq Ali wusste, dass sich Mick unter die Demonstranten mischen wollte. Er hatte ihn angerufen und ihn wissen lassen, dass er dabei sein wolle. »Er sagte: ›Ich komme mit.‹« Aber er wollte keine Rede halten. Er nahm nur als Beobachter teil, als eine Art prominenter Journalist an der Peripherie des Geschehens. Dennoch machten Gerüchte die Runde, denen zufolge er vor der berittenen Polizei einen Tanz aufführte oder Schaufenster einschlug (wobei die meisten Schaufenster verbarrikadiert waren). In Wahrheit entfernten er und Marianne Faithfull sich kaum von dort, wo sich auch die Journalisten postiert hatten; ins Getümmel stürzten sie sich nicht. Nichtsdestotrotz war das nicht ganz ohne Risiko für ihn. Es war ja keineswegs sicher, inmitten des Chaos von den Polizeikräften nicht für einen der vielen langhaarigen Agitatoren gehalten zu werden. Mick Jagger trug ja kein Bühnenoutfit, nur ein einfaches Poloshirt und einen Mantel – Studentenkluft eben. »Natürlich hätten sie ihm eins überziehen können«, meint auch Ali. »Sie haben an diesem Tag einige Schädel eingeschlagen. Er wollte einfach zu der Menschenmenge dazugehören. Er scherte sich nicht um die damit verbundenen Konsequenzen, das ist wahr. Klar ist aber auch, dass es im ganzen Land eine Lawine ins Rollen gebracht hätte, wenn er an diesem Tag von den Cops zusammengeschlagen worden wäre. Es war also schon riskant, aber er ging dieses Risiko ein.«
Als die Leute ihn erkannten, machte Mick eine seltsame und unerwartete Beobachtung. Er bemerkte wie sich der Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit verlagerte. Alle, die bisher die amerikanische Botschaft und den ungerechten Krieg im Blick gehabt hatten, starrten nun »Mick Jagger« an. Es war ein sonderbares Gefühl. Abgesehen von seiner Musik hatte er persönlich keine Möglichkeit, irgendetwas zu verändern. Ganz gleich wie sehr man es von ihm erwartete, letztendlich war es ihm nicht möglich, das Geschehen unmittelbar zu beeinflussen. Er erkannte das auf eine durchaus aufrichtige und löbliche Weise, nämlich indem er sich dem Kampf stellte, dabei aber scheiterte. Nach etwa einer halben Stunde kehrte er in die Sicherheit seines Apartments am Cheyne Walk zurück und verfolgte die Demonstration wie alle anderen Unbeteiligten im Fernsehen.
Lennon machte genau dieselbe Erfahrung. Er fragte sich, was er persönlich zur Sache beitragen konnte oder wie sehr er davon ablenken würde. Unter den Demonstranten verbreitete sich das Gerücht, dass er die Anwaltskosten für alle bezahlen werde, die man verhaftete, aber persönlich ließ er sich nicht blicken.
Kurz darauf setzte sich Mick mit Keith, Brian Jones und dem Rest der Stones zusammen. Gemeinsam mit Jimmy Miller nahmen sie in den Olympic Studios Songs für den Nachfolger des wenig erfolgreichen Albums Their Satanic Majesties Request auf. Mick hatte unter dem Arbeitstitel »Has Everybody Paid Their Dues« einen neuen Song geschrieben. Der Text beschwor Bilder von Ereignissen herauf, wie sie sich an einem heißen, schwülen Junitag am Grosvenor Square und in Paris ereignet hatten, und er ließ erahnen, dass die gleißende Sommersonne die ohnehin schon aufgewühlte Menge nur noch stärker aufpushen würde. Mick spielte bei dieser Gelegenheit sehr gewitzt auf Martha and the Vandellas 64er Nummer-eins-Hit »Dancing in the Streets« an, womit er sich auch ein wenig über die Revolution und die mit ihr verbundenen Hoffnungen auf soziale Veränderungen lustig machte. Keith schrubbte die Saiten wie ein Folkie und spielte seine Akustikgitarre über einen zu stark ausgesteuerten Kassettenrekorder ein, wodurch er einen sehr verzerrten Sound erzielte. In einem seiner letzten kreativen Momente fügte Brian Jones eine Tambura hinzu, und Charlie Watts spielte auf einem alten Spielzeugschlagzeug aus den 30er-Jahren einen militärischen
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