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Milchblume

Milchblume

Titel: Milchblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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Der brennende Schmerz tat gut. Er war reinigend. Er löste den Ekel von ihr. Silvia musste zurückdenken und übergab sich. Auch das war gut. So löste sich der Ekel auch aus ihr. Noch einmal rieb sie sich mit Schilfgras das Leid, die Schmach, die Traurigkeit aus den Poren. Noch immer ging ihr Atem wild. Aber es wurde besser. Das kühle Teichwasser half. Vergangenheit vergeht nicht. Trotzdem, das Teichwasser half.
    Silvia holte tief Luft und tauchte unter, machte kräftige Schwimmbewegungen unter der Wasseroberfläche. Fasriggrün zog der Teich über ihr dahin. Ihre Fingerspitzen stießen weit nach vorn, durchs Wasser. Der Teich lebte, er glitt an ihren Armen entlang, umspülte ihr Gesicht, wellte an ihren Rücken, an Brust und Bauch, wurde verdrängt von der ener­gischen Bewegung ihrer Beine, ihrer Füße, schlug kleine Bläs­chen zwischen ihren Zehen.
    Ein paar hundert Meter weiter, am Seifritz-Hof, wollten sich die Ersten schon davonmachen. Schließlich galt es, das Geschehene, oder was dafür gehalten wurde, andernorts rasch weiterzuerzählen, solange es noch Ahnungslose gab, die dankbar waren für geheimnisvoll Gerauntes, die sich erstaunt zeigten über streng Vertrauliches, variantenreich dargeboten und um so manches Detail ergänzt. Doch welch ein Glück, nicht zu früh gegangen zu sein. Welch ein Glück, denn das Schauspiel war noch nicht zu Ende.
    »Seht nur, da kommt Silvia!«, rief der Pfarrer, vor besorgter Aufregung ganz außer sich.
    »Mein Gott«, krächzte entsetzt ein altes Weib, »wie blass das Mädel ist!«
    Von weitem her schritt Silvia auf das Gehöft zu. Ihr nasses Haar hatte sie streng nach hinten gestrichen, zu einem Zopf geknotet. Ihr Gang war anders als sonst, auch ihre Haltung. Das lieblich Mädchenhafte an ihr war verschwunden. Mit geradem Rücken und weit ausladenden Schritten näherte sie sich. Ihr Kopf war erhoben, hart gespannt die Muskeln in ihrem Gesicht. Einige Dorfbewohner eilten auf sie zu, vornehmlich die Mädchen und die alten Weiber. Doch dann sahen sie ihren strengen Blick, ihre kühlen Augen, fest geradeaus gerichtet, und alle hielten verunsichert inne. Was ist nur mit ihr geschehen, dachten manche. Ist das überhaupt die Seifritz Silvia? Silvia würdigte keine und keinen von ihnen eines Blickes. Dennoch hatten die Umstehenden den Eindruck, sie sei sich der Lage bewusst, ja beherrsche sie auf gespenstische Weise.
    Gewiss war es Silvia, die da kam. Doch etwas Grundlegendes an ihr war anders, das merkten alle, auch die Dumpfesten unter ihnen. Silvia, das zarte, süße Mädel, das war einmal gewesen. Was da auf sie zuschritt, war eine Frau. Eine, mit der nicht zu spaßen war. Ihr Ausdruck war schneidend, selbst­sicher und kühl. Manche sagten später, er war anklagend. Und zwei, drei Alte meinten gar, sie habe gestarrt wie verhext. Die Huber-Bäuerin, resolut und von schlichtem Gemüt, war die Einzige, die Mut und Neugier genug hatte, um auf sie zuzugehen. Sie wollte sie berühren, angreifen, betasten, nur um sich Gewissheit zu verschaffen, dass dieses Wesen noch Silvia war, die kleine Silvia, die sie hatte groß werden gesehen, die am Hof herumgetollt war, stets herzhaft, fidel aufgelegt. Die Huber-Bäuerin meinte es nicht böse, sie ging auf Silvia zu und wollte schon nach ihrem Arm greifen, wollte wissen, ob auch alles in Ordnung sei, da wurde sie mit einer raschen Ges­te abgewiesen. Die Huber-Bäuerin schreckte zurück.
    Silvia war jetzt mitten unter den Dorfbewohnern. Offene Münder, kurzes Raunen und Getuschel. Dann aber Stille, angespannt. Silvia schritt durch sie hindurch, mit nackten Sohlen, nur ein weißes, nasses Leintuch um ihren schlanken Körper geschlungen. Alle machten ihr den Weg frei, taten einen Schritt zurück. Ein paar alte Weiber schlugen eilig mit knochigen Fingern Kreuze in die Luft.
    Eine stille, uferlose Kraft ging von dieser jungen Frau aus. Das Knäuel Menschen hatte sie bereits hinter sich gelassen. Mit sicherem Schritt strebte sie dem Hof zu. Plötzlich stand die Seifritz-Großmutter ihr im Weg – wich aber ebenso rasch beiseite, stolperte aus dem Weg, sah ihr erschrocken nach. Silvia betrat den Hof durch die Stalltür. Die Großmutter, die Bäuerin und die alten Weiber, die sich im Tross getrauten, hinterher zu schleichen, sahen, wie sie die Kammertür hinter sich zuzog. Beinahe geschlossen war sie, da trat Silvia noch einmal heraus – mit einem Blick und einer Haltung, als verriegle sie diese Tür für immer, als sei diese Kammer von nun an

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