Milchmond (German Edition)
Sinn, als er ihr zu Weihnachten den schweren Goldreif um den Hals legte. Andere Bilder tauchten auf; der blasierte Benno von Kühnheim mit seiner pomadigen Art, Szenen aus ihrem Alltag in der Redaktion. Sie goss sich noch ein Glas ein; stürzte es hinunter. Sie war eine Versagerin! Wenn sie das Glück schon einmal in ihren Händen hielt, konnte sie es nicht bewahren. Was hatte das Leben denn noch für einen Sinn? Allein zu bleiben, konnte sie sich nicht vorstellen. Dann erinnerte sie sich an einen der letzten Sätze ihrer Mutter kurz vor ihrem Selbstmord ... Kind, wenn du einmal heiratest, dann höre auf dein Herz, nicht auf deinen Verstand...
Sie hatte auf ihr Herz gehört, und? Hatte es etwa geholfen? NEIN! In ihrem Kopf nistete sich langsam ein breiiges Gefühl ein, machte sie ruhiger, ließ den Tränenstrom verebben. Diesmal nippte sie den Gin in kleinen Schlückchen. Sie mochte die Wirkung, die ihr half, den tristen Grauschleier von ihrer Alltagswelt zu reißen.
Entschlossen stellte sie das Glas mit beiden Händen auf die Glasplatte des Tisches. Doch der Aufprall war wohl zu hart, der Fuß des Glases brach ab. Sie fühlte ein absurdes Kichern in sich aufsteigen. Uups, nun lässt sich das Glas nicht mehr abstellen. Ist ja auch kein Standglas, sondern ein Trinkglas. Wieder kicherte sie und stieß einen kleinen Rülpser aus. Uuuiih! Sie zog mit der freien Hand den Stöpsel aus der Ginkaraffe und schenkte nach.
Wenn sie genau darüber nachdachte, worüber machte sie sich eigentlich Gedanken? Pah, sie hatte genug Chancen bei den Männern. Außerdem, wer war schon Tobias? Ein Langweiler, ein aufgeblasener Trottel. Sollte er doch mit dieser blöden Kuh von diesem Jörg selig werden und mit ihr Familie spielen. Das war sowieso nicht ihre Welt. Das heißt, wenn diese Schnitte ihn nach ihren MMS-Grüßen überhaupt noch wollte. Männer sind alles Scheißkerle, alle! Mit dem kaputten Glas in der Hand, abstellen ließ es sich ja nun nicht mehr, wozu auch?, torkelte sie unsicher ins Bad. Im Spiegel prostete sie sich zu, sie sah furchtbar aus! Mit der freien Hand wusch sie sich mit kaltem Wasser das Gesicht ab. Nun war ihre Schminke noch zerstörter. Hey, Sylvia Sommer oder sollte ich lieber zu dir Sylvia Winter oder Sylvia Herbst sagen?, fragte sie ihr groteskes Spiegelbild.
Auf der Waschbeckenablage erblickte sie den harmlos aussehenden, grünweißen Contactlinsenbehälter. Gute Idee! Sie öffnete ihn, und entnahm ihm eine der beiden weißen Pillen mit dem eingeprägten Smiley-Logo. Na, meine kleinen Freunde? Wollen wir heute Party feiern? Sich selbst zunickend, steckte sie eine in den Mund. Nein, heute war Anlass genug, sich beide zu gönnen! Sie schluckte sie mit dem restlichen Gin aus ihrem Glas hinunter. Dann ging sie zur Musikanlage. Eine Party ohne Musik ging schon mal gar nicht! Die Mamma-mia-CD steckte noch im Laufwerk.
Als Party-Mucke genau das Richtige! Sie begann zu tanzen. Dabei wurde ihr warm, sie zog sich das Top aus. Sie füllte das Glas noch einmal, kam jetzt richtig in Fahrt. Puh, war das warm hier! Sie riss sich den BH herunter und warf ihn mit lässigem Schwung in eine Ecke, wo er sich an der Stehlampe verfing und noch zwei Umrundungen schaffte, bis er schließlich, schlaff herabhängend, zur Ruhe kam.
Schlappschwanz, alter Freund! Hihi! Sie merkte, wie ihr Gesicht anfing zu glühen, wie erste farbige Trugbilder ihren Augen einen Streich spielten. Komisch, die Musik schien auch immer leiser zu werden, schwankte. Blöde Musikanlage! Sie drehte den Lautstärkeregler höher und gab sich weiter ihrem wilden Tanz hin. Schneller und schneller drehte sie sich, die Schuhe flogen in eine Ecke und rissen dabei die steinerne Diskuswerfer-Figur, dumpf polternd, vom Regal.
Ihre Strumpfhose vertrug das schnelle Drehen ihrer Füße auf dem handgewebten, tibetischen Wollteppich nicht besonders gut, fing an zu wandern, an den Zehen immer länger zu werden und zu rutschen. Sie verfing sich schließlich damit am Fuß des roten Ledersessels, strauchelte und stürzte schwer mit dem Kopf gegen die Glasplatte des Tisches. Halt suchend griffen ihre Hände im Fallen zum Store der Fenster-Deko, die sie mit sich zu Boden riss. Dann versank sie unter dem fallenden Stoff in abgrundtiefer Schwärze, und ihr Bewusstsein stürzte ins Bodenlose…
Kapitel 27
Das Telefonat mit Julia verschaffte ihm Gewissheit; der Zeitpunkt auf der Verbindungsliste deckte sich mit ihrer Erinnerung an das
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