Miss Emergency
einem Lehrbuch. Irritiert schiebe ich den Wagen weiter. Hat Marie-Luise heute irgendeine Prüfung? Beim dritten Patienten geht mir auf, was nicht stimmt: Ich bin ganz alleine unterwegs! Wo ist der bebrillte Streber, der mir sonst immer mit seinem Wagen auf dem Flur entgegengrinst?! Warum kommt kein anderer PJler über die Station geschoben? Meine Erleichterung ist riesig, als ich Isa entdecke, die am anderen Ende des Stationsflurs ihren Kanülenwagen bestückt. Ihr ist noch nicht aufgefallen, dass wir hierheute allein sind. Doch das ist auch nicht gerade ein gutes Zeichen. Ratlos stehen wir mit den Wagen vor dem Waschraum und ich will gerade von Marie-Luise und ihrem Buch erzählen, als sich die Tür öffnet, wir unsanft am Ãrmel gepackt werden und uns jemand eilig in den Toilettenvorraum zerrt.
»Was macht ihr denn noch hier?!« Perplex stehen wir Jenny gegenüber, die sich heute besonders aufgemotzt hat â ihre Haare knistern geradezu â und mir aufgeregt ein abgegriffenes Lehrbuch in die Hand drückt. »Hat euch keiner Bescheid gesagt?!«
Verwirrt sehen wir uns um. Die Damentoilette ist voll eifriger PJlerinnen, die Haare kämmen, Kittel glatt ziehen und hektisch in den Lehrbüchern blättern, die überall auf Waschbeckenrändern und Spiegelbords ausgebreitet sind.
»Achalasie«, flüstert ein Mädchen und blättert ängstlich durch ihr Buch, »Gastritis ⦠Hepatitis â¦Â«
»Was ist noch mal zystische Fibrose?!«, fragt eine andere panisch. »Wenn er mich das fragt, bin ich geliefert!«
Isa und ich wechseln einen entsetzten Blick. Prüfung? Gibt es eine Prüfung? Jetzt schon? Warum hat uns keiner was gesagt?! Jenny toupiert ihr Haar und fuchtelt in Richtung Lehrbuch.
»Zieht euch schnell noch ein bisschen Wissen rein. Ich habâs gewusst, aber irgendwie vergessen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass euch keiner Bescheid gegeben hat.«
Mir reicht es. Ich packe Jenny am Kittelarm und sehe ihr fest in die Augen. »Was zur Hölle ist los?!«
Jenny lächelt gequält. »Chefarztvisite. Jetzt.«
Alles Jammern ist vergebens. Die Frage, warum eine so wichtige Information an mir vorbeigegangen ist, muss aufgeschoben werden. Auch die Reue über den verplapperten Sonntag, an dem wir alles, alles hätten lernen können, ist müÃig. Jetzt heiÃt es nur noch schnell sein. Inmitten der hektischen Betriebsamkeit versuche ich wahllos, mir allen noch erreichbaren Lehrstoff staubsaugerähnlich ins Gehirn zu ziehen. Für die Kriegsbemalung, an die alle anderen eilig letzte Hand anlegen, habe ich keine Zeit mehr.
»Acht Uhr!«, ruft ein Mädchen â und wie durch Zauberhand verschwinden die Bücher und alle PJlerinnen rauschen aus dem Vorraum. Mir bleibt ein letzter Blick in den Spiegel. Rote Flecken auf den Wangen und eine völlig zerraufte Frisur. Alles an mir schreit: Nicht vorbereitet!
Man sollte nicht glauben, dass die Riege, die hier adrett auf dem Flur Aufstellung genommen hat, aus denselben panischen Hühnern besteht, die eben im Bad noch alle durcheinander schnapp-atmeten. Auch die männlichen PJler wirken zurechtgemacht und selbstsicher. In Reih und Glied stehen wir als braves Regiment auf dem Gang und strahlen Kompetenz und Respekt aus. Und ich mittendrin ⦠Man sollte auch nicht für möglich halten, dass der jovial lächelnde Mann, der jetzt über den Gang auf uns zukommt, dieses ganze Chaos ausgelöst hat. Dr. Dr. Friedrich Kreuz wünscht guten Morgen und nimmt die Parade mit einem zufriedenen Kopfnicken ab. Er wirkt wie ein netter Opi â muss man seinetwegen wirklich solche Panik machen?
Isas schweiÃnasse Hand schiebt sich ängstlich in meine. Ich lächle ihr zu. Das schaffen wir schon. Und dann lasse ich sie lieber los â falls uns der Chefarzt die Hand geben will, möchte ich keinen ganz so verschmierten Händedruck abliefern. Eine Sekunde später entdecke ich hinter Dr. Dr. Kreuz ein bekanntes Gesicht. Dr. Thalheim. Und jetzt bin ich es, die wieder nach Isas Hand greift. Mein völlig unangemessenes Selbstbewusstsein verschwindet so abrupt, wie es gekommen ist. Steh mir bei â wenn der mich etwas fragt, sind doch wieder alle Peinlichkeiten der Welt vorprogrammiert!
Die Chefarztvisite ist etwas ganz anderes als der gemächliche Rundgang mit Dr. Ross, die gerecht reihum ihre Fragen stellt und falsche
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