Mission Munroe. Die Sekte
sagte: »Wenn das da so eine raue Gegend ist, wundert es mich schon, dass zwei Frauen sich so spät in der Nacht noch auf ein Gespräch mit einem fremden Mann einlassen.«
»Sie hatten allen Grund, sich sicher zu fühlen.«
»Aber nicht, weil du so ein toller Typ bist, nehme ich an.«
Bradford schüttelte den Kopf.
»Nun erzähl schon«, sagte sie.
Im Hotel hatte Bradford zunächst einmal eine Skizze des Grundrisses angefertigt. Später dann, bei einem Tischgespräch, das sich zuerst um das Land Argentinien und anschließend um Religion gedreht hatte, war es ihm gelungen, Hannahs Zimmernummer zu bekommen.
Auf einem Blatt Papier zeichnete Bradford die Zugänge, die toten Winkel und die problematischen Stellen auf. Hannah wohnte im zweiten Stock. Um dorthin zu gelangen, musste man durch den Haupteingang, am Empfangstresen vorbei und dann die Treppe hinauf, die sich am hinteren Ende des winzigen Foyers nach oben wand. Es gab weder Fahrstühle noch Feuerleitern noch Notausgänge. Nicht in diesem Teil der Stadt, schon gar nicht in diesem Gebäude.
Die Portiers verstanden sich eher als Wächter und weniger als dienstbeflissenes Personal. Bei jedem Schichtwechsel kam ein neuer Mann, der genauso grobschlächtig aussah wie sein Vorgänger. Sie hatten Waffen hinter dem Tresen und bemühten sich nicht einmal ansatzweise um Diskretion. Überwachungskameras gab es nicht, aber dafür streiften zwei Männer der Cárcan-Familie abwechselnd rund um die Uhr durch die Flure und passten auf. Sie machten einen gelassenen, aber durchaus aufmerksamen Eindruck. Offensichtlich reichten diese Maßnahmen aus, um Penner und anderes Gesindel fernzuhalten. Die Kleinkriminellen blieben jedenfalls brav draußen.
In den oberen beiden Stockwerken zweigten jeweils zwei kurze Flure links und rechts vom Treppenhaus ab. In jedem Flur befanden sich acht Zimmer, vier rechts und vier links, also insgesamt sechzehn Zimmer pro Stockwerk. Hannah war in einem Zimmer am Ende eines Flurs im zweiten Stock untergebracht. Dort wohnten außer ihr nur Cárcan-Leute, aber Bradford war der Ansicht, dass sie nur versteckt, aber nicht extra bewacht wurde.
Beim Hineingehen unbemerkt am Empfangstresen vorbeizuschlüpfen, war überhaupt kein Problem. Das Hotel jedoch mit einem betäubten Mädchen über der Schulter wieder zu verlassen, das zufälligerweise auch noch persönlicher Gast des Hotelbesitzers und der Cárcan-Familie war, das stand auf einem ganz anderen Blatt. Auf der Ranch wäre eine Entführung mitten in der Nacht, wenn alle schliefen, sehr viel einfacher gewesen, aber andererseits … eine Geiselbefreiung wäre deutlich schwieriger gewesen als das, was sie jetzt vorhatten.
Es war ein Glücksfall, dass sie sie so schnell gefunden hatten. Munroe wollte auf keinen Fall noch länger warten. Allerdings … sie war eine Informationsbeschafferin, eine Spionin. In ihrer Welt waren Unsichtbarkeit und Klugheit mehr wert als Pistolen und eingetretene Türen. Daher wäre es vielleicht klüger gewesen, noch mehr in Erfahrung zu bringen, ein Gefühl für das Umfeld und ihre konkrete Aufgabe zu entwickeln. So präzise Bradfords Beobachtungen auch sein mochten, sie konnten niemals ein vollständiger Ersatz für ihre eigenen sein.
Aber in diesem Stadium war ihr das alles egal.
Es ließ sich unmöglich abschätzen, wie lange Hannah in diesem Hotel festgehalten werden würde, und die Cárcan-Familie hatte mit Sicherheit zahlreiche weitere Verstecke
zu bieten, falls die ERWÄHLTEN unruhig werden sollten. Hinzu kam, dass Munroe sich gut vorstellen konnte, was Männer wie die, die sie im Foyer der Ranch getroffen hatte, mit einem jungen Mädchen wie Hannah anstellen würden. Und an diesem Ort war Hannah geradezu umzingelt von ebensolchen Männern.
Sie hatte keine Lust mehr, nett und freundlich zu sein, hatte keine Geduld mehr, um eventuelle Kollateralschäden zu vermeiden. Dieses Mal war alles möglich. Sie würde hineinstürmen, sich das Mädchen schnappen und so schnell wie möglich wieder verschwinden.
Sie brauchte Raúl nur ein dickes Bündel Geldscheine in die Hand zu drücken, dann überließ der Taxifahrer ihr bereitwillig seinen Wagen für die Nacht – vielleicht sogar für immer. Bradford saß am Steuer und manövrierte wie ein Einheimischer durch das selbstmörderische Chaos des Stadtverkehrs von Buenos Aires, während Munroe ihm im Peugeot folgte.
Auf einem Parkplatz einen knappen Kilometer von dem Cárcan-Hotel entfernt hielten sie an. Hier waren
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