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Mister Aufziehvogel

Mister Aufziehvogel

Titel: Mister Aufziehvogel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Farben vor mir, als hätte ich einen Deckel aufgestemmt und sie herausgelassen. Als er zu sprechen anfing, verlangte Zimt immer wieder, daß ich ihm die Geschichte erzählte. Ich muß sie ihm hundert-, zweihundert-, fünfhundertmal erzählt haben, aber ohne dabei jedesmal dasselbe zu wiederholen. Jedesmal verlangte Zimt, daß ich eine andere kleine Episode ausführte, die in der Haupthandlung enthalten war. Er wollte jeweils einen anderen Ast desselben Baumes kennenlernen. Ich folgte der Verzweigung, nach der er fragte, und erzählte ihm den Teil der Geschichte. Und so wuchs die Geschichte und wuchs immer weiter.
    Auf diese Weise schufen wir uns unser eigenes komplexes System von Mythen. Verstehen Sie? Wir gaben uns völlig der Geschichte hin, die wir uns jeden Tag wieder erzählten. Stundenlang redeten wir über die Namen der Tiere im Zoo, über den Glanz ihres Fells oder die Farbe ihrer Augen, über die verschiedenen Gerüche, die in der Luft hingen, über die Namen und Gesichter der einzelnen Soldaten, über deren Herkunft und Kindheit, über ihre Gewehre und das Gewicht ihrer Munition, über ihre Ängste und ihren Durst, über die Form der Wolken, die am Himmel trieben …
    Während ich Zimt die Geschichte erzählte, sah ich alle Farben und Formen klar und deutlich vor mir, und es gelang mir, das, was ich sah, in Worte zu fassen - in genau die Worte, die ich brauchte - und ihm dadurch alles zu vermitteln. In jede Richtung ging es endlos weiter. Es gab immer weitere Details, die sich zusätzlich einfügen ließen, und die Geschichte gewann immer mehr an Tiefe und Weite und Raum.«
    Muskat lächelte, als sie von diesen lang zurückliegenden Tagen sprach. Ich hatte noch nie ein so natürliches Lächeln auf ihrem Gesicht gesehen. »Eines Tages aber endete es doch«, sagte sie. »An diesem Februarmorgen, an dem Zimt zu sprechen aufhörte, hörte auch unser gemeinsames Geschichtenerzählen auf.«
    Muskat verstummte kurz, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Jetzt weiß ich, was damals geschah. Seine Worte verirrten sich in dem Labyrinth, sie wurden von der Welt der Geschichten verschlungen. Irgend etwas, das aus diesen Geschichten herauskam, raubte ihm die Zunge. Und ein paar Jahre später brachte dasselbe Etwas meinen Mann um.«
     
    Der Wind hatte seit dem Morgen an Stärke zugenommen und trieb eine schwere graue Wolke nach der anderen in einer geraden Linie nach Osten. Die Wolken sahen wie stumme Wanderer aus, unterwegs zum Rand der Welt. Ab und zu stöhnte der Wind in den kahlen Ästen der Bäume wortlos auf. Ich blieb am Brunnen stehen und sah hinauf zum Himmel. Auch Kumiko sah jetzt wahrscheinlich gerade zu ihm auf. Das fiel mir ohne besonderen Grund ein. Es war nur so ein Gefühl, das ich hatte.
    Ich stieg die Leiter hinunter, und als ich den Grund des Brunnens erreicht hatte, zog ich an dem Seil, das den Deckel verschloß. Nach zwei, drei tiefen Atemzügen ergriff ich den Schläger und ließ mich behutsam in der Dunkelheit nieder. In völliger Dunkelheit. Ja, das war die Hauptsache. Der Schlüssel war diese unbefleckte Dunkelheit. Es war wie in einer Kochsendung im Fernsehen. »Ist das jetzt klar? Das Geheimnis dieses Rezeptes ist völlige Dunkelheit. Achten Sie darauf, daß Sie die undurchdringlichste Sorte verwenden, die Sie überhaupt bekommen.« Und den stärksten Schläger, den Sie in die Hände kriegen, fügte ich hinzu und lächelte kurz in der Dunkelheit.
    Ich spürte eine gewisse Wärme an meinem Mal. Sie verriet mir, daß ich dem Kern der Dinge ein Stückchen näher rückte. Ich schloß die Augen. In meinen Ohren hallten noch die Klänge der Musik, die Zimt heute morgen während der Arbeit immer wieder gehört hatte. Es war Bachs »Musikalisches Opfer«, und ich hatte es noch im Kopf, wie das Summen einer Menschenmenge unter der Kuppel eines hohen, gewölbten Zuschauerraums. Schließlich aber senkte sich Stille herab und begann, sich in die Windungen meines Gehirns einzugraben, Schicht für Schicht, Falte für Falte, wie ein Insekt, das seine Eier ablegt. Ich öffnete die Augen und schloß sie dann wieder. Die innere und die äußere Dunkelheit begannen ineinanderzufließen, und ich trat allmählich aus mir hinaus, aus dem Gefäß, das mich umfaßte. Wie jedesmal.

15
    D AS KÖNNTE DIE ENDSTATION SEIN
    (MAY KASAHARAS STANDPUNKT: 3)
     
    Hallo mal wieder, Mister Aufziehvogel.
    Letztes Mal bin ich so weit gekommen, daß ich Ihnen erzählt habe, daß ich hier in dieser Perückenfabrik arbeite, weit weg,

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