Monrepos oder die Kaelte der Macht
werden soll. Die Gesellschaft wird immer individueller, nur der Staat und die großen Organisationen, die Parteien eingeschlossen, haben es noch nicht gemerkt und versuchen, mit den kollektiven Lösungen von gestern die Probleme in den Griff zu kriegen. Wir sollten demgegenüber das Chancenpotential einer neuen Gesellschaft beschreiben, die den technischen Fortschritt nutzt, um diese Konflikte zu überwinden. Die im Grunde eine Art Versöhnungsgesellschaft ist, die an die Stelle der industriellen Konfliktgesellschaft tritt. Das Wort ›Versöhnungsgesellschaft‹ gefällt mir sehr gut, ich meine, es stammt von Hermann Lübbe oder von Odo Marquard, irgend jemand hat es verwendet beim letzten Untersteiner Gespräch. Ich denke, man könnte es als Oberbegriff nehmen für das, was wir wollen. Was meinen Sie?
Gundelach überlegte, ob er sich als Stichwortgeber für weitere Fragmente aus Spechts Redenrepertoire betätigen oder ihn gleich befragen sollte, wie er denn damit dreihundert Buchseiten zu füllen gedenke.
Er entschied sich dafür, ihn erst einmal essen zu lassen.
Den Begriff Versöhnungsgesellschaft, sagte er, müßte man natürlich noch näher definieren und so konkret wie möglich zu beschreiben suchen. Ohne das wirkt er ziemlich unscharf.
Ganz richtig, erwiderte Specht und speiste.
Er sollte in vielen Lebensbereichen verwendbar sein, nicht bloß in der Politik. Und es darf nicht der Eindruck entstehen, wir wären weltferne Utopisten. Konflikte wird es immer geben, sie gehören zum Meinungsstreit in der Demokratie.
Vollkommen klar, sagte Specht. Keine Eiapopeia-Gesellschaft. Es geht ums Grundsätzliche – Sie wissen schon.
Vielleicht läßt sich der Grundgedanke am leichtesten aus dem Begriff der Ganzheitlichkeit herleiten, fuhr Gundelach fort und versuchte zu ordnen, was ihm bei der Lektüre der letzten Monate durch den Kopf gegangen war. Das Bemühen um eine ganzheitliche Sicht komplexer Zusammenhänge spielt im Moment in vielen Bereichen eine zentrale Rolle, in der Ethik zum Beispiel und sogar bei den Naturwissenschaften. Wenn es gelänge, das auf den gesellschaftspolitischen Raum zu übertragen, zum Beispiel, indem man die gemeinsamen Wurzeln von sozialem und wirtschaftlichem Streben, von Arbeit und Kultur herauskristallisiert –.
Trinken Sie noch was?
Ja, bitte – dann ergäbe sich die Versöhnung scheinbarer Gegensätze gleichsam von selbst als Synthese, als geschichtlicher Auftrag, der jetzt erst, mit Hilfe grenzüberschreitender Technologien, erfüllt werden kann.
Sehr gut, sagte Specht. Das ist der Punkt. Er schob den Teller beiseite.
Das böte uns auch die Möglichkeit, die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Diskussion, ihre Eindimensionalität, ihre Zersplitterung und Übersteigerung plastisch darzustellen, als Kontrast, sozusagen.
Ja, sagte Specht. Nehmen Sie noch einen Nachtisch?
Danke, nein. Aber einen Kaffee würde ich trinken.
Specht bestellte zwei Kaffee und zwei Armagnac.
Die Frage ist natürlich, fuhr Gundelach fort, wie weit wir uns mit einer derartigen Analyse vorwagen wollen. Sie könnte auch als Kritik an der Bundesregierung und an Helmut Kohl gedeutet werden.
Das ist mir wurscht, sagte Specht. Entweder Kohl fängt an zu begreifen, daß er so wie bisher nicht weitermachen kann, oder er begreift’s nie. Strauß sagt das ja schon ganz offen. Ich hab einfach die Arbeitsteilung satt, daß die SPD für Visionen, die FDP für wirtschaftliche Erfolgsmeldungen und wir für den täglichen Reparaturbetrieb zuständig sind. Das regt unsere Leute allmählich auf, und mit Recht. Übrigens, mit Lambsdorff und seinem Gequatsche vom Spechtschen Staatskapitalismus müssen wir uns auch auseinandersetzen. Der hat ein total antiquiertes Verständnis von Marktwirtschaft, das muß deutlich rauskommen.
Ich hab da noch eine Idee, sagte Gundelach. Sie ist aber noch nicht ausgereift. Selbst die konservativsten Marktwirtschaftler bestreiten doch nicht, daß nicht der einzelne, sondern der Staat für die Schaffung grundlegender Infrastrukturen zuständig ist – Straßen, Eisenbahnen, Schulen und so weiter. Aber wer bestimmt eigentlich, was unter Infrastruktur zu verstehen ist? Das hängt doch ganz davon ab, welchen Entwicklungsstand eine Wirtschaft aufweist. Für die Hansestädte des Mittelalters waren eisfreie Häfen das Wichtigste, bei der Industrialisierung des Ruhrgebiets spielte die Eisenbahn eine zentrale Rolle. Warum sollen nicht Telekommunikation, Glasfaser oder
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