Monrepos oder die Kaelte der Macht
weigerte, von ihrer Behauptungen ein Jota zurückzunehmen, gab Breisinger grünes Licht für die Klage. Es schien ein Akt staatskanzleilicher Routine.
Brief an die Eltern
Liebe Eltern, Den 29. Juni 1978
zunächst bedanke ich mich herzlich für Eure Glückwünsche zu meinem dreißigsten Geburtstag. Natürlich habt Ihr recht, wenn Ihr sagt, daß man ein rundes Datum wie dieses eigentlich ordentlich feiern müßte. Und ebenso gut verstehe ich, daß Ihr über mein langes Schweigen unglücklich seid. Ich bin sicher nicht das, was man einen gefälligen Menschen nennen mag. Heike, die sich schon schlafen gelegt hat, hat mir auch schon vorgehalten, sie in letzter Zeit zu vernachlässigen.
Nun, ich will versuchen, einiges, wenn nicht gutzumachen, so doch wenigstens zu erklären. Mit ein paar Sätzen ist das allerdings nicht zu schaffen; Ihr müßt, worin Ihr ja geübt seid, Geduld aufbringen. Eine positive Nachricht habe ich übrigens auch noch, aber die spare ich mir für den Schluß auf. Ohne sie würde ich den Brief vielleicht gar nicht abschicken, wer weiß … Ich fürchte nämlich, es wird ziemlich viel Seelenmüll, den ich bei Euch abladen werde. Aber das darf man doch auch noch mit dreißig, oder?
Ihr wißt aus den Medien, was sich gegenwärtig bei uns abspielt, besser gesagt: Ihr wißt, was darüber berichtet wird. Das ist aber nur die äußere Sicht der Dinge – eine Art Kriegsberichterstattung hinter der Front. Wir aber sitzen hier mitten drin im Kessel, und es ist alles noch weit traumatischer, als es sich nach außen darstellt.
Ich muß in diesen Tagen und Wochen oft an Dich denken, Vater. Du hast, was ich Dir immer hoch angerechnet habe, über Deine Erlebnisse beim Rußlandfeldzug, über den Krieg insgesamt, nie ein Wort verloren. Du wolltest, glaube ich, weder prahlen noch uns Kinder ängstigen, sondern einfach vergessen und nach vorne schauen. Ich habe diese Stärke nicht. Vielleicht kommt Dir schon der Vergleich, den ich wähle, um unsere Lage zu beschreiben, unpassend und überspannt vor. Was ist ein Krieg der Worte und der Akten, verglichen mit einem ›richtigen‹ Krieg?
Und doch wird es auch hier Opfer geben, dessen bin ich mir sicher, und ein Lebenswerk wird vernichtet werden. Ich hätte mir bis vor kurzem nicht vorstellen können, wie schnell und schonungslos so etwas geschehen kann.
Breisinger verfällt von Tag zu Tag mehr. Wer ihn kennt, merkt es deutlich. Noch schlimmer aber ist für uns, die wir doch immerhin ein ganzes Stück Weg mit ihm zusammen gegangen sind (manche seit zehn Jahren und mehr!), daß sein Bild in uns zerfällt, nein, daß es schon zerfallen ist. Und keine Macht der Welt wird es mehr kitten.
Wir sitzen hier auf Trümmern und müssen so tun, als sähen wir sie nicht. Dabei sind es die Trümmer unserer eigenen – ich finde kein passendes Wort dafür, sagen wir: Illusionen. Ja, wir sitzen auf den Trümmern aller Illusionen, an die wir geglaubt haben, und müssen nun ständig neue produzieren, an die keiner mehr glaubt – außer Breisinger vielleicht, und das macht die Sache noch schmerzlicher.
Ich bin gegenüber den Vorwürfen, die jetzt auf Breisinger wie Granatfeuer niederprasseln, besonders empfindlich. Lange wollte ich es nicht wahrhaben, daß auch nur die objektiven Tatsachen zutreffen könnten. Dabei hat mich das erste Urteil, jenes vom Mai 1945, dessen Erwähnung in einem Zeitungsartikel den Stein ins Rollen brachte, noch relativ kalt gelassen. Gut, es mutet seltsam an, jemanden nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wegen Gehorsamsverweigerung für sechs Monate einzubuchten. Aber die Engländer selbst hatten ja wohl, zur Aufrechterhaltung der Disziplin im deutschen Gefangenenlager in Oslo, Order gegeben, die seitherigen Befehlsverhältnisse bis auf weiteres bestehen zu lassen. Dann konnte man Widersätzlichkeiten schlecht nach angelsächsischem Recht aburteilen. Und außerdem sind sechs Monate Knast, wenn man ohnehin in Gefangenschaft ist, nicht die Welt, denke ich – oder sehe ich das falsch?
Dann aber kam diese entsetzliche Geschichte, die der Spiegel Anfang Mai aufgedeckt hat. Breisinger beantragt als Vertreter der Anklage gegen einen Soldaten die Todesstrafe wegen versuchter Fahnenflucht und wohnt ihrer Vollstreckung im März 1945 bei. Es will mir bis heute nicht in den Kopf, daß es keine Möglichkeit gegeben haben soll, durch Winkelzüge die Hinrichtung bis über das absehbare Ende des Krieges hinauszuschieben, wenn man es denn nur gewollt
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