Morbus Dei: Im Zeichen des Aries: Roman (German Edition)
ausgebreitet wie die Beute nach einer Treibjagd. Es gab keine Särge, so wie es das Armutsgelübde des Ordens verlangte. Manche der Toten waren noch in ihre rauen Kutten gekleidet, an anderen war der Stoff bereits zerfallen. Die bräunliche Haut ihrer eingefallenen Gesichter glich trockenem Papier, das jeden Moment zu zerreißen drohte. Ihre Arme lagen auf der Brust verschränkt, durch die brüchig gewordenen Finger glitten die Perlen von Rosenkränzen. Neben einigen der Toten lag ein mannshohes, schmuckloses Holzkreuz, das Geschenk zum fünfzigsten Jahrestag ihres Gelübdes, das sie im Alter als Krückstock verwenden konnten.
Als Knabe hatte Johann sich manchmal heruntergeschlichen, um seinen Mut zu testen, war die Reihen der Leiber abgeschritten und angewidert fasziniert gewesen von den Bußgürteln aus Drahtgeflecht, die manche der Brüder um Oberschenkel, Oberarm oder Leibesmitte gewickelt hatten. Die Häkchen der Gürtel hatten sich in die lederne Haut gefressen, bei einigen waren sie fast zur Gänze eingewachsen und erzählten so von der jahrzehntelangen Pein, die die Mönche ihrem Herrn näherbringen sollte. Wenn Johann am Ende der letzten Reihe angekommen war, hetzte er immer aus der Höhle, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her, rannte quer durch den Klostergarten und kletterte auf den Kirschbaum. Wenn ihn dann für kurze Zeit keiner der Mönche suchte oder ermahnte, machte sich in ihm ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit breit.
Es war dieses Gefühl der Freiheit gewesen, das ihn davon abgehalten hatte, das Gelübde abzulegen. Er hatte sich einfach nicht vorstellen können, sein ganzes Leben im Kloster zu verbringen.
Und Bernardin hatte das verstanden.
Sorgsam leuchtete Johann mit der Lampe die Reihen ab. In den natürlichen Nischen der Höhle waren Kruzifixe angebracht, die Felswände waren mit groben Fresken verziert und mit Spinnweben überzogen. Flackerndes Licht fiel auf die Bilder, die die Größe von Wandteppichen hatten, es erweckte die Szenen der Apokalypse zu unheimlichem Leben und warf groteske Schatten auf die Toten.
Schließlich stand Johann vor Bruder Martin von Leibnitz, dem Apotheker und jahrzehntelangen Hüter des Kräutergartens und der Heilmittel, für die Altmarienberg berühmt gewesen war.
Johann erinnerte sich an seinen mahnenden Gesichtsausdruck, wenn er Johann getadelt hatte. Der Apotheker konnte noch nicht lange tot sein. Seine Haut wirkte frisch, beinahe lebendig, und die Augenhöhlen waren noch nicht eingefallen.
Johanns Blick fiel auf das Bündel getrockneter Kräuter, die auf Bruder Martins Brust lagen. Er wischte sie beiseite. Als die Kräuter auf den Steinboden fielen, war ein trockenes Rascheln zu hören.
Reflexartig blickte Johann sich um, empfand ein tiefverwurzeltes Gefühl der Angst, die Toten aufzuwecken. Aber alles blieb still.
Unter dem Bündel lag eine kleine Papierrolle, die durch ein Band zusammengehalten wurde. Johann streifte es ab und rollte das Papier auf.
Es war Abt Bernardins Abschrift der letzten Seiten des Buches Morbus Dei .
Johann atmete tief durch. Mit seinen letzten Worten hatte ihm der Abt das Geheimnis anvertraut und ihm damit den Schlüssel zur Hoffnung geschenkt.
Er sollte es nicht bereuen.
XLIX
Ludwig Gasser saß allein in seiner Gaststube. Es war Nachmittag, die Sonnenstrahlen drangen schräg durch die schmalen Fenster und zeichneten wellige Muster auf den gestampften Boden.
Die grob gezimmerten Tische und Bänke waren leer, die ersten Gäste würden erst am frühen Abend kommen. Früher war immer jemand in der Stube gewesen, wenn nicht zum Essen, dann um von Ludwigs vorzüglichem Schnaps zu trinken, den er aus dem Iseltal kommen ließ.
Aber nun ging das Geschäft schlecht. Seit Kurzem war er nicht mehr der einzige Wirt in der Koatlackn. Die anderen boten zwar schlechten Fusel und Essen, das den Namen nicht verdiente, doch sie waren billiger als er, und das war es, was für die meisten Bewohner dieses Viertels zählte.
Seit er das Gasthaus übernommen hatte, hielt er die Preise niedrig, weil er wusste, dass die Koatlackler arm waren. Aber auch die Armen mussten essen – so war die Vereinbarung, die er mit seinen Gästen getroffen hatten, eine Zeitlang für alle Beteiligten vorteilhaft gewesen: Er bot leistbares, aber üppiges Essen, dafür hauten sich die Besucher seines Wirtshauses nicht ihre Schnapsköpfe ein und ließen seine Stube ganz. Deshalb war es im Gegensatz zu anderen Gasthäusern in Innsbruck bei ihm
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