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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Lehm an Ihre Schuhe?«, bohrte Littlemore weiter.
    »Häh?«
    »Jack, verfrachten Sie Mr. Chong in den Knast an der Forty-seventh. Sagen Sie Captain Post, er ist ein Opiumhändler.«
    Als ihn Officer Reardon am Arm packte, fand Chong seine Sprache wieder. »Warte. Ich sagen. Ich wohnen in Apartment nur am Tag. Ich nix wissen Opium. Ich nie vorher gesehen Opium.«
    »Klar. Schaffen Sie ihn weg, Jack.«
    »Hokay, hokay«, lenkte Chong ein. »Ich sagen, wer verkaufen Opium. Hokay?«
    »Schaffen Sie ihn weg«, wiederholte der Detective.
    Beim Anblick von Reardons Handschellen geriet Chong in Panik. »Warte! Ich sagen andere Sache. Ich zeigen etwas. Sie folgen in Gang. Ich zeigen, was Sie suchen.«
    Chongs Stimme hatte sich verändert, er klang nun wirklich verängstigt. Littlemore bedeutete Reardon, Chong durch den dunklen, engen Korridor vorausgehen zu lassen. Nach wie vor war das Scheppern aus dem Restaurant zwei Stockwerke tiefer zu hören, und während sie dem Chinesen am Treppenhaus vorbei durch den Flur folgten, vernahm Littlemore das dissonante Wimmern eines chinesischen Saiteninstruments. Der Bratengeruch wurde stärker. Alle Türen hatten sich einen Spalt geöffnet, damit die Bewohner das Treiben auf dem Gang beobachten konnten. Alle Türen bis auf eine. Die einzige geschlossene Tür gehörte zu dem Zimmer am hintersten Ende des Korridors. Hier blieb Chong stehen. »Gehen hinein.«
    »Wer wohnt hier?«, fragte der Detective.
    »Mein Cousin. Heißen Leon. Er schon lange hier. Jetzt niemand.«
    Die Tür war verschlossen. Auf Littlemores Klopfen gab es keine Reaktion, aber als der Detective knapp vor der Tür angekommen war, merkte er, dass der überwältigende Geruch nach gebratenem Fleisch doch nicht aus dem Restaurant stammte. Er zog zwei dünne Metallstifte aus der Tasche. Littlemore verstand sich auf verschlossene Türen. Auch diese hatte er in kürzester Zeit geöffnet.
    Bis auf die Größe war das Zimmer das genaue Gegenteil von Chong Sings Raum. Sämtliche Flächen waren von grellroten Ziertüchern bedeckt. Ein Dutzend kleine und große Vasen standen verstreut herum, die meisten von ihnen in Form von Drachen und Dämonen geschnitzt. Auf dem Fensterbrett standen eine lackierte Rougedose und dahinter ein runder Kosmetikspiegel; auf einer Kommode thronte eine bemalte Statue der Jungfrau mit dem Kind. Fast jeder Quadratzentimeter der Wand war bedeckt mit gerahmten Fotografien, die alle einen Chinesen zeigten, der seinerseits das genaue Gegenteil von Chong Sing war. Der Mann auf den Fotografien war groß und mit seiner Adlernase und dem makellosen Teint von einnehmendem Äußeren. Er war nach westlicher Art mit Jackett, Hemd und Krawatte bekleidet. Fast alle Bilder zeigten diesen Mann mit jungen Frauen – mit verschiedenen jungen Frauen.
    Am meisten stach jedoch ein einzelner wuchtiger Gegenstand ins Auge, der mitten im Zimmer stand: ein großer, geschlossener Schrankkoffer. Es war ein Schrankkoffer, wie er von wohlhabenden Reisenden benutzt wurde, mit Lederwänden und Messingscharnieren. Er war sechzig Zentimeter hoch, sechzig breit und neunzig lang. Und er war mit dicken Seemannstauen verschnürt.
    Ein übler Geruch lag in der Luft. Littlemore konnte kaum atmen. Die chinesische Musik drang aus dem Zimmer direkt über ihnen, und dem Detective fiel das Denken schwer. Fast hatte es den Anschein, als würde der Schrankkoffer in der stickigen Atmosphäre flimmern wie eine Fata Morgana. Littlemore öffnete sein Taschenmesser. Auch Officer Reardon hatte eins dabei. Wortlos traten sie vor den Kasten und begannen, gemeinsam an den schweren Seilen zu sägen. Eine wachsende Gruppe von Chinesen, viele mit Taschentüchern vor dem Mund, stand in der Tür und schaute zu.
    »Sie können Ihr Messer wieder wegstecken, Jack«, sagte Littlemore zu Officer Reardon. »Behalten Sie lieber Chong im Auge.«
    Der Detective bearbeitete die Taue jetzt allein. Kaum dass er die letzte Schlinge durchtrennt hatte, sprang der Deckel des Schrankkoffers auf. Reardon taumelte zurück – entweder vor Überraschung oder wegen der stinkenden Gasschwaden, die explosionsartig aus dem Inneren des Schrankkoffers entwichen. Littlemore bedeckte den Mund mit dem Ärmel, blieb aber stehen. In der Truhe befanden sich drei Dinge: ein mit einem ausgestopften Vogel gekrönter Damenhut, ein dicker, mit einem Faden zusammengehaltener Stapel Briefe und Umschläge und die zusammengestauchte Leiche einer jungen Frau im Zustand fortgeschrittener Verwesung, die

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