Morgen wirst du sterben
Emily so etwas tun sollte. Wer dann?, dachte Sophia. Wer beobachtet mich und warum?
Ich sehe dich. Vergiss mich nicht. Und dann dieser seltsame Hinweis auf den 2. Juli. Heute war der 4. Juni – es war weniger als ein Monat bis zu dem angegebenen Datum.
»Was passiert am 2. Juli?«, flüsterte Sophia. Sie trat ans Fenster und blickte nach draußen. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann und tippte etwas in sein Smartphone. Das ist er, dachte Sophia. Und musste sich am Fensterbrett festhalten, weil ihr plötzlich wieder total schwindlig war. Aber dann steckte der Mann sein Telefon ein und ging einfach weiter. Fehlanzeige. Oder auch nicht. Vielleicht hatte der Typ sie nur bemerkt und war deshalb weggegangen. Jeder da draußen konnte die Mail geschrieben haben.
»Ich muss zur Polizei«, murmelte Sophia. »Cybermobbing ist ein schweres Verbrechen«, hatte ihre Klassenlehrerin mit düsterer Stimme erklärt, als die Sache mit Sarah damals ans Licht gekommen war. Aber mich mobbt ja keiner, dachte Sophia. Mich bedroht man. Wenn ich zur Polizei gehe, kommt alles ans Licht, was ich damals getan habe, dachte Sophia. Aber dann wurde ihr plötzlich klar, dass sie gar nichts mehr zu verbergen hatte. Hatte sich Sarah nicht soeben bei ihr dafür bedankt, dass sie die Fotos manipuliert hatte?
Wie erstattete man eigentlich Anzeige? Sollte sie bei der Polizei anrufen oder einfach auf die Wache marschieren? Sophia schüttelte den Kopf. Sie würde zuerst einmal mit ihren Eltern reden.
»Wieso kommst du erst jetzt damit an?«, fragte Herr Rothe entgeistert, als Sophia ihm die Ausdrucke der beiden Mails auf den Schreibtisch legte. »Wann hast du die erste Nachricht bekommen?«
»Vor drei Wochen oder so. Aber ich hab’s nicht ernst genommen.«
»Na hör mal!«, meinte ihre Mutter. »Das klingt ja richtig bedrohlich. Ich bin bei euch alle Tage bis zum 2. Juli. Was soll das mit dem Datum?«
»Hast du mit irgendjemandem Zoff?«, erkundigte sich ihr Vater.
»Nee. Ich hab keine Ahnung, wer dahintersteckt.«
»Ihr«, murmelte Herr Rothe.
»Bitte?«
»Er schreibt: Ihr glaubt, ihr seid mich los. Aber ich vergesse euch nicht. Er meint offensichtlich nicht nur dich.«
»Stimmt. Aber in der Mail von eben redet er nur noch von mir. Ich sehe dich. Vergiss mich nicht.«
»Hm. Trotzdem. Es klingt so, als ob der Typ die Mail nicht nur an dich geschickt hat, sondern auch an andere. Hast du mal mit deinen Freundinnen drüber gesprochen?«
Mit welchen Freundinnen?, dachte Sophia.
»Vielleicht ist es jemand aus deiner Klasse«, sagte ihre Mutter. »Denk doch mal nach, kommt dir da nicht vielleicht doch ein Verdacht?«
Sophia schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wirklich nicht.«
»Wahrscheinlich ist es nur ein blöder Witz«, sagte ihr Vater nachdenklich. »Aber sicher können wir uns da nicht sein. Natürlich gehen wir damit zur Polizei. Wir erstatten Anzeige gegen unbekannt. Gleich morgen.«
»Wir?«, fragte Frau Rothe schnippisch. »Du meinst wohl ihr. Ich soll mit Sophia zur Polizei.«
»Na, ich hab morgen in der Praxis einen Termin nach dem anderen. Ich kann da wirklich nicht weg.«
»Ich kann das auch alleine«, sagte Sophia. »Ihr müsst mir nur sagen, wo ich hinmuss.«
»Nein, lass mal, ich komme mit«, erklärte ihre Mutter. »Ich versuch vormittags rauszukriegen, wer für solche Fälle zuständig ist. Und dann begleite ich dich, das ist doch klar. Mein Job ist ja nicht so wichtig«, fügte sie spitz hinzu, mit einem Seitenblick auf ihren Mann.
Bevor sie Moritz und Sophia bekommen hatte, hatte Frau Rothe als Sprechstundenhilfe in der Praxis ihres Mannes gearbeitet. Als Sophia fünf war, hatte sie dort auch wieder einsteigen wollen, aber inzwischen gab es ein modernes Computersystem in der Praxis und ein neues Abrechnungswesen und Arzthelferinnen, die keine Lust hatten, mit der Frau des Chefs zusammenzuarbeiten. Nach einem halben Jahr hatte Frau Rothe aufgegeben und jetzt jobbte sie auf 400-Euro-Basis in einem Bioladen. Unnötigerweise, wie ihr Mann fand. Die Putzfrau kostet mehr, als du verdienst, sagte er immer.
»Ich hoffe bloß, dass sie den Typ schnell finden, der diesen Schwachsinn schreibt«, meinte Frau Rothe besorgt.
»Vielleicht ist es ja auch eine Frau«, sagte Sophia.
Aber ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Dahinter steckt ein Kerl, das hab ich im Gefühl.«
»Du musst mit deinen Mitschülern reden«, erklärte ihr Vater. »Vielleicht warst du nicht die Einzige,
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