Mut Proben
einundsechzig Jahre jung, behauptet, Drachenfliegen mache süchtig.
Mit schnellen, kurzen Schritten eilt er herbei, leicht untersetzt, rundes Gesicht, ein Klemmbrett unter dem Arm. Er entspricht nicht ganz dem Heldenbild, das ich mir gemacht hatte von dem Mann, der sich vor knapp vierzig Jahren als einer der Ersten in Europa von über tausend Meter hohen Bergen stürzte, auf einer Schaukel aus dem Spielwarengeschäft sitzend, von der man hintenüber kippen konnte, was auch oft genug geschah.
Er schickt einen strahlenden Blick aus schalkhaften blauen Augen in die Runde. »Sensationell«, sagt er. Vor uns liege eine sensationelle Woche. Ein stabiles Hochdruckgebiet sorge für fünf, vielleicht sechs Tage schönes Wetter.
Er seufzt. »Wahrscheinlich die letzte Gelegenheit zum Fliegen in diesem Jahr.«
Ein paar einleitende Worte, dann: »Gurtzeug anlegen, Gas geben.« Aus einer kleinen Schlucht zerren wir zwei kreischend bunte Drachen hervor und den Hang hinauf. Kurz darauf taste ich mich geduckt unter das Polyestersegel, stecke Kopf und Schultern durch ein triangelförmiges Gestänge, das in Fachkreisen seltsamerweise Trapez genannt wird, obwohl es ein Dreieck ist, stemme zweiundzwanzig Kilogramm Drachen hoch und balanciere sie auf den Oberarmen. »Anstellwinkel flacher«, schnarrt Wolf per Funk durch den Ohrhörer in meinem Helm. »Flügel ausrichten – Konzentration – zwei langsame Schritte und ab geht die Post.«
Das ist mir zu unfeierlich. Kein Fliegergruß, kein »Grüß mir die Sonne«, kein letzter Handschlag. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Ein bisschen mehr Pathos, wenigstens ein sorgenvoll gemurmeltes »Hals- und Beinbruch«. Monatelang habe ich auf diesen Moment hingefiebert, mir ausgemalt, was passieren könnte, mit sehr gemischten Gefühlen.
Unter den sogenannten Risikosportarten gilt alles, was sich in der Luft abspielt, als besonders gefährlich. Die Chance, tödlich abzustürzen, liegt nach amtlicher Lesart bei 1:500 bis 1:1000. 160 Der Deutsche Hängegleiterverband rechnet zuvorkommender, zählt zwar jedes Jahr ein bis zwei tote Gleitschirm- und Drachenflieger, kommt aber auf eine Letalitätswahrscheinlichkeit von nur 1:35 000. 161
Neun Wochen zuvor verunglückte nicht weit von uns ein neunzehnjähriger Gleitschirmflieger. Er hatte vergessen, Bein- und Brustgurte zu schließen. Freunde sahen, wie er nach dem Start durch das Geschirr rutschte. Mit den Achseln hing er auf den seitlichen Riemen, konnte sich so immerhin zehn, zwölf Minuten halten, lenkte den Schirm fünf Kilometer weit über einen See und ließ sich fallen. Doch er war noch zu hoch, stürzte sechzig bis achtzig Meter, da trifft der Körper auf eine Oberfläche hart wie Beton.
Es ist nicht leicht, auf einem Idiotenhügel zu sterben, und ich habe nicht vor, das Gegenteil zu beweisen. Höchstwahrscheinlich aber, meint Wolf – wir duzen uns hier fliegerkameradschaftlich – werden wir uns Dienstag oder Mittwoch gemeinschaftlich einen Muskelfaserriss zuziehen oder wenigstens eine Oberschenkelzerrung. Das sei am dritten oder vierten Tag ganz normal, beruhigt er uns, da helfe die beste Muskulatur nichts. Er habe hier schon zwei Radrennfahrer von der Tour der France mit gewaltigen Schenkeln gehabt, die seien am dritten Tag vom Gelände gehumpelt.
Ein Psychologe hat ihm das mal erklärt. »Da passiert etwas ganz Seltsames im Kopf.« Der Verstand befehle: »Volle Pulle den Berg runterrennen.« – »Das ist doch bescheuert«, denke das Unterbewusstsein, »so was tut man nicht«, und bremse. Den Kompetenzstreit im Gehirn baden die Beine aus.
Ich nehme mein Unterbewusstsein kurz beiseite, erkläre eindringlich, dass ich das hier wirklich will und wir eine tolle Zeit haben können – vorausgesetzt, wir ziehen alle an einem Strang. Dann renne ich los.
Einen Hang abwärts zu galoppieren, obwohl man nach oben will, ist tatsächlich merkwürdig. Immerhin scheinen sich in meinem Oberstübchen alle einigermaßen zu vertragen, niemand hält an.
»Umgreifen«, knarzt Wolf. Unter dem Segel hat sich ein kleines Luftpolster gebildet. Ich lasse das Trapez los, es schwebt knapp über meinen Schultern, packe die seitlichen Holme von hinten und drücke sie nach vorn. Ein Fehler.
Der Drachen hebt abrupt die Nase und zieht hoch. Ich fliege. Aber nur gefühlte zwei Sekunden. Steil steht der Drachen in der Luft, verliert an Fahrt und fällt. Auf den Gummireifen rechts und links der Trapezecken rolle ich den Berg herunter, bis das Segel mich
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