Mut Proben
hinterrücks überholt und die Spitze in den Boden bohrt. Ende. Ich klinke mich aus dem Karabiner, schnappe den Drachen am Alurohrschwanz und ziehe ihn wieder hoch – als hätte ich das schon tausendmal gemacht.
Mein erstes Mal. Viel habe ich nicht gespürt. Angst? Kann mich nicht erinnern. Ich war konzentriert aufs Laufen und Umgreifen.
Wir teilen uns die beiden Drachen zu viert, und außer uns werden noch ein paar Gleitschirmflieger, im Pilotenslang: »Glitschies«, von Wolf unterwiesen. Zeit, um sich bekannt zu machen. Da ist einer mit Pferdeschwanz, Falkner von Beruf, offensichtlich aus der Gegend – »Grüß Gott, ich bin der Klima, Paul«, hat er sich vorgestellt – und mit einer außergewöhnlichen Mission unterwegs, wie sich herausstellt. Da ist Jürgen, eher schweigsam, kümmert sich um die Datensicherheit bei Siemens, trägt einen altmodisch gemusterten Pullover und hundertzehn Kilo; die Erde donnert, wenn er den Hang hinunterstürmt, bis er endlich abhebt. »Tja«, sagt Wolf zu uns gewandt, mit echter Anteilnahme, »bei so einem Gewicht muss man sich den Flug erarbeiten.«
Ein blonder Schlaks, Daniel, hat bis vor Kurzem Klavier und Gesang studiert. Jetzt weiß er nicht recht weiter. Einmal war er wandern in den südfranzösischen Alpen nahe Nizza, da sah er vor sich das Meer und über sich einen Drachenflieger, der weite Kreise zog. Das, beschloss Daniel, wolle er auch machen, und zwar genau dort. Darum ist er hier.
Ich wäre ohne dieses Buch nicht in die bayerischen Voralpen gefahren, zum Anfänger-Drachenfliegerkurs in Penzberg.
Schrei des Adlers
Es fällt mir selten leicht, etwas gänzlich Neues zu unternehmen, besonders wenn es mit einer Reise verbunden ist. Ich pflege da eine gewisse Schwellenangst. Auch neige ich dazu, mich im Alltagstrott einzurichten. Entweder, weil mir der Trott gerade ganz gut gefällt, oder weil ich so schrecklich viel zu tun habe, dass es mir ungehörig scheint, ans Wegfahren auch nur zu denken. Andererseits weiß ich: Sobald ich mit gepackten Sachen im Zug sitze, erfüllt mich eine freudige Erregung.
So auch dieses Mal. Neugierig, ob ich den Anforderungen gewachsen sein werde. Wird mich die Angst übermannen? Welches Gefühl überkommt einen in der Luft? Natürlich kommt alles anders. Ich habe zum Beispiel überhaupt nicht an die Menschen gedacht, denen ich in dieser Woche begegnen würde. Es sind ganz unterschiedliche Leute, die aus ganz unterschiedlichen Motiven hier gelandet sind.
»Jetzt geht’s ans Fliegen«, sagt Wolf und stapft den Hang zwanzig Meter höher. Es ist immer noch der erste Tag. Auch damit habe ich nicht gerechnet: Am Anfang, dachte ich, machen wir ein bisschen Konversation, reden übers Wetter, pauken ein wenig Theorie. Wolf deutet nach unten auf zwei rot-weiß gestreifte Hütchen, die er nahe der Holzhütte aufgestellt hat. »Wer als Erster da hindurchfliegt, gibt ’ne Runde aus.«
Leichter Wind kommt auf. Die Fähnchen, die im Rasen stecken, flattern bergan. »Er ist heute lockerer drauf«, sagt der Falkner mit dem Pferdschwanz, der offenbar nicht zum ersten Mal hier ist. »Letzte Woche hätte Wolf bei so einem Wind abgebrochen.«
Es rumst mächtig, meine linke Trapezstange ist verbogen. Ich lausche in den Helm. Erst Stille. »Das war das Dramatischste heute«, hechelt Wolf. Ich spüre, dass er nicht den Matsch meint, in den ich geschlittert bin. Die Hütchen hatte ich weit verfehlt, dafür das einzige Feuchtgebiet auf der Wiese getroffen. »Das war viel zu hoch«, sagt Wolf. »Noch ein bisschen höher, und das hätte im Krankenhaus geendet.«
Das verdutzt mich. Ich fühlte mich super da oben. Schon nach vier, fünf Schritten hob ein Windstoß von vorn mich hoch. Von wahnsinnig weit oben, schien es mir, guckte ich hinunter auf die Wiese, die Baumkronen, Euphorie-Wogen durchspülten mich. Bloß nicht runter. Doch es ging rasant runter. Krachend setzt das Ding auf, meine gepolsterte Schürze fängt den Stoß ab, aber ein Holm knickt durch. Das macht mir jetzt Sorgen. Ist der Drachen hin? Muss ich den Kurs verlassen? Wie läuft das hier eigentlich versicherungstechnisch?
Mit ein paar Handgriffen bringt der Trainer die Stange wieder ins Lot. Speziallegierung aus der Schweiz, wunderbar flexibel, kein Problem. Aber meinen Fehler, sagt er, das Trapez von mir wegzustoßen, den müsse ich mir abgewöhnen. Sonst passiert das Schlimmste: Strömungsabriss, Sturzflug. Bei einem Übungsdrachen eigentlich unmöglich, aber – wer weiß.
Der Falkner
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