Nacht aus Rauch und Nebel
weit, zwei, maximal drei Kilometer vielleicht. Erst auf halbem Weg bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, meine Schuhe anzuziehen, und stattdessen noch meine Plüschpantoffeln trug. Doch das war mir momentan vollkommen egal. In meinem Kopf war nur für einen einzigen Gedanken Platz: Marian lebte!
Im Krankenhaus war es still. Der Pförtner kannte mich bereits, und als ich ihm erklärte, was geschehen war, winkte er mich durch. Ich sprintete die Treppe hinauf zu Marians Station. Wie immer roch es nach Desinfektionsmittel und das Licht der Neonröhren wirkte nicht gerade einladend. Doch ich konnte mir keinen Ort vorstellen, an dem ich in diesem Augenblick lieber gewesen wäre. Ich riss die Tür zu Marians Zimmer auf.
Da lag er!
Bleich wie eh und je. Seine Augen waren geschlossen. Nein! Das durfte doch nicht wahr sein! Ich setzte mich auf die Bettkante und griff nach seiner großen Hand. Sie fühlte sich tatsächlich wärmer an als in den vergangenen Wochen. Mit den Fingerspitzen strich ich über seine schwielige Haut. Seine Pupillen zuckten unter den Lidern, auf denen sich feine Äderchen abzeichneten. Sein Atem ging regelmäßig, das Geräusch mischte sich mit dem Piepsen des EKGs.
Ohne seine Hand loszulassen, rutschte ich noch ein Stück näher an Marian heran und legte mich neben ihn auf die gestärkten Laken. Um nicht aus dem schmalen Bett zu fallen, musste ich mich eng an ihn kuscheln, mit dem freien Arm umschlang ich seine Brust. Mein Mund lag an seinem Ohr.
»Marian«, raunte ich ihm zu. »Ich bin es, Flora. Ich bin hier und passe auf dich auf, ja?«
Mein Herz klopfte so laut, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie jemand bei diesem Lärm schlafen sollte. Und … Ja! Hatte Marian nicht gerade geblinzelt? Erwiderte er tatsächlich den Druck meiner Hand? Ich hob den Kopf ein Stück, um besser in sein Gesicht sehen zu können. Eine meiner Haarsträhnen rutschte dabei hinter meinem Ohr hervor und strich über seine Wange.
Endlich schlug Marian die Augen auf. Mir wurde heiß. Sein Blick wanderte über die Deckenlampe zu meinem Gesicht. »Flora«, formten seine rissigen Lippen.
Ich nickte und strahlte ihn an, während sich gleichzeitig eine Träne aus meinem Augenwinkel löste und auf seinen Nasenrücken tropfte.
»Da bist du ja wieder«, flüsterte ich und zeichnete mit dem Daumen die Linie seiner Brauen nach. Marian lächelte.
»Wo sind wir?«, fragte er.
Ich erklärte es ihm.
Vorsichtig setzte er sich in seinem Bett auf. »Ich habe also über sechs Wochen im Koma gelegen?« Ungläubig betrachtete er seine kalkweißen Hände auf der Bettdecke.
»Ja. Nachdem wir dich im Nichts verloren hatten, haben mein Vater und ich deinen Körper auf der Bank vor Wiebkes Haus gefunden und hergebracht. Bloß wo deine Seele in Eisenheim sich befindet, wissen wir nicht. Hast du irgendeine Ahnung?«
Marian nickte langsam, schüttelte jedoch gleich darauf den Kopf. »Wie geht es Ylva?«
»Gut«, sagte ich schnell. Zumindest galt das für die reale Welt. Warum war Amadé nur so starrköpfig? »Also, den Umständen entsprechend«, verbesserte ich mich. »Sie ist bei uns eingezogen und hat sich natürlich große Sorgen um dich gemacht, wie wir alle.«
Marian nickte. »Aber sie ist heil aus dem Nichts gekommen. Ihr habt es zurück zur Stadt geschafft.«
»Ja«, bestätigte ich. »Sollen wir sie anrufen, damit sie auch herkommt?« Auf einmal hatte ich doch ein schlechtes Gewissen, dass ich niemanden geweckt und die gute Nachricht für mich behalten hatte. Ohne nachzudenken, war ich einfach losgerannt, als der Anruf gekommen war. Ich begann, in meiner Handtasche nach dem Handy zu kramen, um meinem Vater, Christabel und Ylva Bescheid zu geben. »Sie werden bestimmt alle ganz aufgeregt sein, dass du wieder wach bist.«
Doch Marian hielt meinen Arm fest. »Warte noch«, murmelte er und sank zurück in die Kissen. »Sie können doch morgen vorbeikommen, ich möchte mich lieber noch ein wenig ausruhen.« Seine Lider flatterten.
Ich stellte die Handtasche beiseite. »Klar können sie dich auch später besuchen. Aber …« Ich wusste nicht so recht, wie ich es ausdrücken sollte. »Aber leider wissen wir immer noch nicht, … wo in Eisenheim deine Seele landen wird, wenn du jetzt einfach einschläfst«, stammelte ich. »Was, wenn du ins Nichts fällst? Dann kann dir niemand mehr helfen.« Ich griff nach seiner Hand. »Kannst du nicht lieber versuchen, so lange wie möglich wach zu bleiben?«
Marian schüttelte den Kopf.
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