Nacht aus Rauch und Nebel
Dunkelheit. Schattenklauen, die über Wände krochen. Ächzen im Gebälk des alten Hauses. Die Furcht ließ nicht lange auf sich warten.
Ich zog mir die Decke über den Kopf und zwang mich, an schöne Dinge zu denken. Einen leckeren Kakao mit Sahne obendrauf, einen Nachmittag mit Wiebke … Allerdings musste ich aufpassen, dass mein Bewusstsein keine zu schönen Erinnerungen streifte. Marian zum Beispiel, das warme Prickeln, das mich überzog, wenn seine Lippen auf meinen lagen. Gelegen hatten. Oder Kleinigkeiten, wie das Spiel der Sehnen auf seinen blassen Unterarmen, wenn er gestikulierte. Schon wieder löste sich eine Träne aus meinem Augenwinkel. Ich tastete nach dem Taschentuchpaket auf meinem Nachttisch und schnäuzte mir die Nase. Nein, das ging nicht. So würde ich mich bestimmt nicht beruhigen, sondern mich höchstens in den Schlaf heulen.
Ich stopfte das benutzte Taschentuch unter mein Kopfkissen, kniff die Augen zusammen und flüsterte: »Kakao, Kakao, Kakao!«
Leider half es nichts. Eine halbe Stunde später war ich nass geschwitzt. Mein Trägertop klebte an meinem Oberkörper, ich hatte Angst und ich fühlte mich einsam. Traurig.
Dass meine Seele meinen Körper verlassen hatte, bemerkte ich erst, als ich bereits auf dem Sims vor meinem Fenster stand. Der Nachtwind ließ meine Schlafanzughose flattern und brachte mich zum Frösteln. Ich betrachtete meine weißlichen Finger, deren Konturen sich kräuselten, wenn ich sie bewegte. Wie die Wasseroberfläche eines Teiches, in den man einen Stein warf. Ich wandte mich um. Hinter der Scheibe erkannte ich mein Zimmer, wie ich es verlassen hatte. Halbwegs ordentlich und in das warme Licht des Leselämpchens getaucht. Im Bett lag mein Körper, noch immer komplett unter der Bettdecke und vollkommen reglos. Als wäre ich tot und meine Leiche zugedeckt worden. Ich schauderte und überlegte, warum ich überhaupt rausgegangen war. Wobei, nun ja, so wirklich viel zu überlegen gab es da eigentlich nicht, denn wenn ich in mich hineinhorchte, war da vor allem eines: Unvollständigkeit. Sehnsucht. Dämliche, dumme Sehnsucht, die meinen Stolz und all meine vernünftigen Gedanken mit Leichtigkeit niederrang.
Ich wollte nicht mehr allein sein. Ich ertrug es nicht länger. Es konnte doch nicht schaden, wenigstens kurz vorbeizuschauen, oder? Ich würde ja sofort wieder gehen. Hatte Marian nicht selbst gesagt, dass wir heute Nacht eine Ausnahme machen könnten?
Meine Füße schoben sich über den Abgrund der Straßenschlucht hinaus. Inzwischen beherrschte ich das Fliegen in meiner Schattengestalt. Es war wie beim Ballett, wenn man die Sprungkombination einmal verinnerlicht hatte, ging es ganz leicht. Ich brauchte mir bloß vorzustellen, die Luft wäre massiv, und im nächsten Augenblick war sie es tatsächlich.
Unsichtbar für die Augen der Schlafenden schwebte ich über die Dächer von Steele. Meine nackten Füße glitten über Schindeln und Dachrinnen, Blitzableiter und Satellitenschüsseln und die Luft dazwischen bis zu Marians Haus. Über den Dachfirst balancierte ich zu seinem in die Schräge eingelassenen Schlafzimmerfenster und lugte vorsichtig um die Ecke.
Marian schlief tief und fest.
Arme und Beine von sich gestreckt, nahm er fast die gesamte Breite seines Riesenbetts ein. Schemenhaft sah ich seine kantigen Wangenknochen und den Schimmer seiner Bartstoppeln darauf, aber der Rest …
Ohne es bewusst entschieden zu haben, tauchte ich zum zweiten Mal in dieser Nacht durch eine Glasscheibe hindurch und trat an die Kante des Bettes. Einzig ein schmaler Streifen Mondlicht erhellte den Raum und malte silbrige Muster auf Marians Haut. Wie immer schlief er mit nacktem Oberkörper. Bei jedem Atemzug hoben und senkten sich die Muskelstränge auf seiner Brust, während sich die Sommersprossen dunkel auf seinem Nasenrücken abzeichneten. Seine Wimpern warfen sichelförmige Schatten auf das feine Adergeflecht unter seinen Augen. Er sah müde aus. Erschöpft, aber friedlich. Was tat seine Seele in Eisenheim wohl gerade? Trainierte er? Sah er nach seiner Schwester in den Minen? Oder suchte er vielleicht sogar nach mir? Genau in diesem Augenblick? Mein Herz flatterte ein wenig, beruhigte sich aber sofort wieder. Nein, warum sollte er das tun?
Fest stand allerdings, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo in der Schattenwelt er sich gerade aufhielt und warum. Mein Mund wurde trocken. Ich hatte es mir bisher noch nicht eingestehen können, aber eigentlich wusste ich so
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