Nacht aus Rauch und Nebel
Möglicherweise lag es daran, dass ich langsam paranoid wurde. Das Gefühl, verfolgt zu werden, intensivierte sich. Immer öfter hörte ich hinter mir Schritte, die verstummten, sobald ich stehen blieb. Schatten, die in Hauseingänge huschten. Bewegungen, die ich nur aus dem Augenwinkel wahrnahm.
Was mich jedoch am meisten verwirrte, war, dass niemand über Tote sprach. Nachdem das Nichts in der Schattenwelt mehrere Hundert Seelen einfach so ausgelöscht hatte, verfolgte ich in den nächsten Tagen gebannt die Nachrichten im Fernsehen, denn schließlich konnte kein Mensch ohne seine Seele leben.
Wann immer ich zu Hause war, ließ ich den Newsticker von N24 laufen. Doch nirgendwo wurden die plötzlich Verstorbenen erwähnt. Ich unternahm mehrmals den Versuch, Christabel darauf anzusprechen, doch die speiste mich meist mit einem »Ich habe gerade Wichtigeres zu bedenken« ab. Und das Handy meines Vaters, der noch immer auf Dienstreise war, war dauerbesetzt.
Am Freitagmorgen dann schwebte zum ersten Mal seit Wochen wieder ein Schattenreiter am Himmel. Er zog über dem Hauptbahnhof seine Kreise und tauchte auch am Abend, als ich vor Wiebkes Haus Wache hielt, noch einmal auf. Zuerst befürchtete ich, er würde mich oder die Zwillinge angreifen. Doch so war es nicht. Der Schattenreiter blieb hoch oben in den Lüften und beobachtete mich nur.
Kurzum, gegenüber dem, was sich in meinen Nächten in Eisenheim abspielte, ging es in der realen Welt dieser Tage geradezu beschaulich zu. Um es auf den Punkt zu bringen: In der Schattenwelt regierte das Chaos. Noch nie hatte es eine so starke Nichtsbewegung gegeben, die Leute standen noch immer fassungslos vor den sich auftürmenden Bergen. Manche meinten gar schemenhafte Gestalten darin zu erkennen. Vermutlich wurde man verrückt, wenn man das Ungeheuerliche zu lange betrachtete.
Unzählige Wandernde hatten ihre Häuser an das Nichts verloren und streiften auf der Suche nach neuen Wohnungen durch die Straßen der Stadt. Zwar war der Krawoster Grund dieses Mal verschont geblieben, doch auch die Schlafenden verhielten sich … anders als sonst. Es war mir schon zuvor aufgefallen, doch nun wurde es schlimmer. Sie arbeiteten nicht mehr so anstandslos wie früher. Es brauchte immer mehr Schattenreiter, um sie zu beaufsichtigen und in Reih und Glied zu halten. Mittlerweile konnte man fast den Eindruck gewinnen, dass mehr Schattenreiter als Schlafende in die Bauarbeiten an den Pyramiden involviert waren.
Auch an Notre-Dame wurde gebaut. Der Großmeister hatte beschlossen, das Hauptquartier nicht aufzugeben, sondern das Gebäude, so gut es ging, zu reparieren – oder wenigstens die Hälfte, die noch von ihm übrig geblieben war. Deshalb wurden nun in etwa einem Meter Abstand zum Nichts neue Wände hochgezogen. Viele hielten das für Wahnsinn, denn so nah am Nichts zu wohnen, war gefährlich. Dennoch fand sich unter den Kämpfern niemand, der die Kathedrale verlassen wollte. Wir hatten schon vorher mit der Gefahr gelebt und würden es auch weiter tun. So einfach war das.
Mir fiel es erstaunlich leicht, wieder einen Fuß in das Hauptquartier zu setzen. Die neue Treppe zu meinem Zimmer bestand zwar vorläufig nur aus einer schmiedeeisernen Leiter, doch das störte mich nicht. Die meiste Zeit verbrachte ich ohnehin in der Bibliothek, auf der Suche nach einem Wort: Desiderius. Von irgendwoher kam es mir bekannt vor, ich vermutete, den Namen des Gelehrten schon einmal irgendwo gelesen zu haben. Nur wo, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern.
Als das Wochenende kam, war ich noch immer keinen Schritt vorangekommen und auch der Mantikor, den ich hätte fragen können, war nicht noch einmal aufgetaucht. Außerdem stand mir nun schlagartig weniger Zeit für meine Nachforschungen zur Verfügung, denn das Dämmerungstraining wurde wieder aufgenommen. Da ein Teil des Tiberischen Saals dem Nichts zum Opfer gefallen war, drängten wir uns in der Nacht von Freitag auf Samstag in einem Raum, dessen Ausmaße zwar an unseren früheren Trainingsplatz herankamen, der jedoch in den Katakomben lag. Hier unten war es ziemlich finster, der Putz bröckelte von den Wänden und ein durchdringender Schimmelgeruch hing in der Luft.
Madame Mafalda thronte wie eh und je auf ihrem storchenbeinigen Stuhl in der Mitte des Saals. Ihre Fettmassen wogten, als sie uns begrüßte und zu Paaren zusammenstellte. Amadé, mit der ich sonst trainierte, war noch nicht aus dem Krawoster Grund zurückgekehrt. Vermutlich suchte
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