Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
drehte sich, und Gregorius mußte sich am Türgriff festhalten, bevor er aufschließen konnte. Er trank ein Glas Milch aus Silveiras Kühlschrank und ging dann langsam nach oben, Stufe für Stufe.
40
Ich hasse Hotels. Wieso mache ich immer weiter? Kannst du mir das sagen, Julieta? Als Gregorius am Samstag mittag hörte, wie Silveira die Tür aufschloß, dachte er an diese Worte von ihm, von denen das Mädchen erzählt hatte. Zu den Worten paßte, daß Silveira Koffer und Mantel einfach fallen ließ, sich in der Halle in einen Sessel setzte und erschöpft die Augen schloß. Als er Gregorius die Treppe herunterkommen sah, hellte sich seine Miene auf.
»Raimundo. Du bist nicht in Isfahan?« fragte er lachend.
Er war erkältet und schniefte. Der Geschäftsabschluß in Biarritz war nicht gewesen wie erwartet, er hatte gegen den Schlafwagenkellner zweimal verloren, und Filipe, der Chauffeur, war am Bahnhof nicht pünktlich gewesen. Außerdem hatte heute auch noch Julieta frei. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben, eine Erschöpfung, die noch größer und tiefer war als damals im Zug. Das Problem ist , hatte Silveira gesagt, als der Zug damals im Bahnhof von Valladolid stand, daß wir keinen Überblick über unser Leben haben. Weder nach vorn noch nach hinten. Wenn etwas gutgeht, haben wir einfach Glück gehabt.
Sie aßen, was Julieta gestern vorbereitet hatte, und tranken dann im Salon Kaffee. Silveira sah, daß Gregorius’ Blick hinüber zu den Fotos der noblen Party ging.
»Verdammt«, sagte er, »das habe ich ganz vergessen. Das Fest, das verfluchte Familienfest!«
Er gehe nicht hin, er gehe einfach nicht hin , sagte er und klopfte mit der Gabel auf den Tisch. Etwas in Gregorius’ Gesicht ließ ihn stutzen.
»Es sei denn, du gehst mit«, sagte er. »Ein steifes Familienfest des Adels. Das Letzte! Aber wenn du möchtest…«
Es war gegen acht, als Filipe sie abholte und verblüfft sah, daß sie in der Halle standen und sich vor Lachen schüttelten. Er habe nichts Passendes zum Anziehen, hatte Gregorius vor einer Stunde gesagt. Dann hatte er Sachen von Silveira anprobiert, die alle spannten. Und nun betrachtete er sich im großen Spiegel: eine zu lange Hose, die sich auf den unpassenden, groben Schuhen in Falten legte, eine Smokingjacke, die nicht zuging, ein Hemd, das ihn am Kragen würgte. Er war erschrocken, als er sich sah, doch dann hatte ihn der Lachanfall von Silveira mitgerissen, und nun begann er, die Clownerie zu genießen. Er hätte es nicht erklären können, doch er hatte das Gefühl, sich mit dieser Maskerade an Florence rächen zu können.
So richtig in Gang kam die undurchsichtige Rache jedoch erst, als sie die Villa von Silveiras Tante betraten. Silveira genoß es, den hochnäsigen Verwandten seinen Freund aus der Schweiz, Raimundo Gregorio, vorzustellen, einen richtigen Gelehrten, der unzählige Sprachen beherrschte. Als Gregorius das Wort erudito hörte, zuckte er zusammen wie ein Hochstapler kurz vor der Entlarvung. Doch bei Tisch ritt ihn plötzlich der Teufel, und er redete zum Beweis seiner Vielsprachigkeit Hebräisch, Griechisch und Berndeutsch wild durcheinander und berauschte sich an den abstrusen Wortkombinationen, die von Minute zu Minute verrückter wurden. Er hatte nicht gewußt, daß so viel Sprachwitz in ihm steckte, es war, als würde er von der Phantasie in einer kühnen, weiten Schleife in den leeren Raum hinausgetragen, immer weiter und immer höher, bis er irgendwann abstürzen würde. Schwindel erfaßte ihn, ein angenehmer Schwindel aus verrückten Wörtern, Rotwein, Rauch und Hintergrundmusik, er wollte diesen Schwindel und tat alles, um ihn in Gang zu halten, er war der Star des Abends, Silveiras Verwandte waren froh, sich nicht mit sich selbst langweilen zu müssen, Silveira rauchte Kette und genoß das Schauspiel, die Frauen sahen Gregorius mit Blicken an, die er nicht gewohnt war, er war nicht sicher, ob sie bedeuteten, was sie zu bedeuten schienen, aber es war ja auch egal, was zählte, war, daß es solche vieldeutigen Blicke gab, die ihm galten, ihm, Mundus, dem Mann aus sprödestem Pergament, den sie den Papyrus nannten.
Irgendwann in der Nacht stand er in der Küche und spülte Geschirr, es war die Küche von Silveiras Verwandten, es war aber auch die Küche der von Muralts, und Eva, die Unglaubliche, sah seinem Tun mit Entsetzen zu. Er hatte gewartet, bis die beiden bedienenden Mädchen gegangen waren, dann hatte er sich in die Küche
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