Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
einmal sah Gregorius diesen portugiesischen Arzt, der vom poetischen Denken als dem Paradies geträumt hatte, zwischen den Säulen eines Kreuzgangs sitzen, mitten in einem Kloster, das zu einem schweigenden Asyl für Entgleiste geworden war. Seine Entgleisung, sie hatte darin bestanden, daß die glühende Lava seiner gequälten Seele mit betäubender Wucht alles verbrannt und weggeschwemmt hatte, was an Knechtung und Überforderung in ihm gewesen war. Er hatte alle Erwartungen enttäuscht und alle Tabus gebrochen, und darin bestand seine Seligkeit. Endlich hatte er Ruhe vor dem gebeugt richtenden Vater, der sanften Diktatur der ehrgeizigen Mutter und der lebenslangen, erstickenden Dankbarkeit der Schwester.
Und auch vor sich selbst hatte er schließlich Ruhe gefunden. Das Heimweh war zu Ende, er brauchte Lissabon und die blaue Farbe der Geborgenheit nicht mehr. Jetzt, da er sich ganz den inneren Sturmfluten überlassen hatte und eins mit ihnen geworden war, gab es nichts mehr, gegen das er einen Schutzwall errichten mußte. Ungehindert von sich selbst, konnte er bis ans andere Ende der Welt reisen. Endlich konnte er durch die verschneiten Steppen Sibiriens nach Vladivostok fahren, ohne bei jedem Klopfen der Räder denken zu müssen, daß er sich von seinem blauen Lissabon entfernte.
Jetzt fiel das Sonnenlicht in den Klostergarten, die Säulen wurden heller und heller und bleichten schließlich ganz aus, so daß nur noch eine leuchtende Tiefe übrigblieb, in der Gregorius den Halt verlor.
Er schreckte auf, ging schwankend ins Bad und wusch sich das Gesicht. Dann rief er Doxiades an. Der Grieche ließ sich den Schwindel in allen Einzelheiten beschreiben. Dann schwieg er eine Weile. Gregorius spürte, wie die Angst in ihm hochkroch.
»Es kann alles mögliche sein«, sagte der Grieche schließlich mit seiner ruhigen Arztstimme. »Das meiste davon ist harmlos, nichts, was man nicht schnell unter Kontrolle bekäme. Aber es müssen Tests gemacht werden. Das können die Portugiesen genausogut wie wir hier. Aber mein Gefühl sagt: Sie sollten nach Hause kommen. Mit den Ärzten in der Muttersprache reden. Angst und Fremdsprache, das paßt nicht gut zusammen.«
Als Gregorius schließlich einschlief, war hinter der Universität der erste Schimmer der Morgendämmerung zu sehen.
43
Es seien dreihunderttausend Bände, sagte die Fremdenführerin, und ihre Pfennigabsätze klackten auf dem Marmorboden der Biblioteca Joanina. Gregorius blieb zurück und sah sich um. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Mit Gold und Tropenhölzern verkleidete Räume, verbunden durch Bogen, die an Triumphbögen erinnerten, darüber das Wappen von König João V., der die Bibliothek Anfang des 18. Jahrhunderts gegründet hatte. Barocke Regale mit Emporen auf zierlichen Säulen. Ein Portrait von João V. Ein roter Läufer, der den Eindruck des Prunkvollen steigerte. Es war wie im Märchen.
Homer, Ilias und Odyssee, mehrere Ausgaben in prachtvollem Einband, der sie zu heiligen Texten machte. Gregorius ließ den Blick weitergleiten.
Nach einer Weile spürte er, daß sein Blick an den Regalen nur noch achtlos vorbeiglitt. Die Gedanken waren drüben bei Homer geblieben. Es mußten Gedanken sein, die ihm Herzklopfen machten, doch er kam nicht darauf, wovon sie handelten. Er ging in eine Ecke, nahm die Brille ab und schloß die Augen. Im nächsten Raum hörte er die grelle Stimme der Führerin. Er preßte die Handflächen auf die Ohren und konzentrierte sich in die dumpfe Stille hinein. Die Sekunden verrannen, er spürte das Blut pochen.
Ja . Was er, ohne es zu bemerken, gesucht hatte, war ein Wort, das bei Homer nur ein einziges Mal vorkam. Es war, als hätte etwas hinter seinem Rücken, verborgen in den Kulissen des Gedächtnisses, überprüfen wollen, ob sein Erinnerungsvermögen noch so gut war wie immer. Sein Atem ging rasch. Das Wort kam nicht. Es kam nicht.
Die Führerin mit der Gruppe zog durch den Raum, die Leute schnatterten. Gregorius schob sich an ihnen vorbei in den hintersten Teil. Er hörte, wie sich die Eingangstür zur Bibliothek schloß und der Schlüssel gedreht wurde.
Mit hämmerndem Herzen rannte er zum Regal und nahm die Odyssee heraus. Das alte, steif gewordene Leder schnitt ihm mit scharfen Kanten in die Handfläche. Hektisch blätterte er und blies den Staub in den Raum. Das Wort war nicht dort, wo er gedacht hatte. Es war nicht dort.
Er versuchte, ruhig zu atmen. Als zöge eine Bank von Schleierwolken durch ihn
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