Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
war die Welt anstrengend. Zwar ging es sich mit dem leichten Gestell auf der Nase auch leichter, die schweren Schritte, die er gewohnt war, paßten nicht mehr zu der neuen Leichtigkeit im Gesicht. Aber die Welt war näher und bedrängender, sie verlangte mehr von einem, ohne daß klar war, worin ihre Forderungen bestanden. Wurden sie ihm zuviel, diese undurchsichtigen Forderungen, zog er sich hinter die alten Gläser zurück, die alles auf Abstand hielten und ihm den Zweifel erlaubten, ob es jenseits von Worten und Texten überhaupt eine Außenwelt gab, einen Zweifel, der ihm lieb und teuer war und ohne den er sich das Leben eigentlich gar nicht vorstellen konnte. Aber vergessen konnte er den neuen Blick auch nicht mehr, und in einem kleinen Park holte er Prados Aufzeichnungen hervor und probierte, wie es mit dem Lesen war.
O verdadeiro encenador da nossa vida é o acaso – um encenador cheio de crueldade, misericórdia e encanto cativante. Gregorius traute seinen Augen nicht: So mühelos hatte er noch keinen von Prados Sätzen verstanden: Der wirkliche Regisseur unseres Lebens ist der Zufall – ein Regisseur voll der Grausamkeit, der Barmherzigkeit und des bestrickenden Charmes. Er schloß die Augen und gab sich der süßen Illusion hin, die neuen Brillengläser würden ihm auch jeden anderen Satz des Portugiesen auf diese Weise zugänglich machen – als seien sie ein märchenhaftes, magisches Instrument, das über die äußeren Konturen der Wörter hinaus auch ihre Bedeutung sichtbar machte. Er faßte an die Brille und rückte sie zurecht. Er begann sie zu mögen.
Ich möchte wissen, ob ich es richtig gemacht habe – das waren die Worte der Frau mit den großen Augen und der schwarzen Samtjacke gewesen; Worte, die ihn überrascht hatten, weil sie wie die eines strebsamen Schulmädchens mit wenig Selbstvertrauen geklungen hatten, was gar nicht zu der Sicherheit paßte, die sie ausstrahlte. Gregorius sah einem Mädchen auf Rollschuhen nach. Hätte der Rollschuhfahrer vom ersten Abend den Ellbogen ein kleines, ein winziges bißchen anders geführt – knapp an seiner Schläfe vorbei –, so wäre er jetzt nicht zu dieser Frau unterwegs, hin- und hergerissen zwischen einem unmerklich verschleierten und einem grellklaren Blickfeld, das der Welt diese unwirkliche Wirklichkeit verlieh.
In einer Bar trank er einen Kaffee. Es war Mittagszeit, der Raum füllte sich mit gutgekleideten Männern aus einem Bürohaus nebenan. Gregorius betrachtete sein neues Gesicht im Spiegel, dann die ganze Gestalt, wie die Ärztin sie nachher sehen würde. Die ausgebeulte Kordhose, der grobe Rollkragenpullover und die alte Windjacke stachen ab gegenüber den vielen taillierten Jacketts, den farblich abgestimmten Hemden und Krawatten. Und auch zur neuen Brille paßten sie nicht; überhaupt nicht. Es ärgerte Gregorius, daß ihn der Kontrast störte, von Schluck zu Schluck wurde er wütender darüber. Er dachte daran, wie ihn der Kellner im Hotel Bellevue am Morgen seiner Flucht gemustert hatte, und wie ihm das nichts ausgemacht hatte, im Gegenteil, er hatte das Gefühl gehabt, sich mit seinem schäbigen Aussehen gegen die hohle Eleganz der Umgebung zu behaupten. Wo war diese Sicherheit geblieben? Er setzte die alte Brille auf, zahlte und ging.
Hatten die noblen Häuser neben und gegenüber der Praxis von Mariana Eça wirklich auch bei seinem ersten Besuch dagestanden? Gregorius setzte die neue Brille auf und sah sich um. Ärzte, Rechtsanwälte, eine Weinfirma, eine afrikanische Botschaft. Er schwitzte unter dem dicken Pullover, gleichzeitig spürte er im Gesicht den kalten Wind, der den Himmel leergefegt hatte. Hinter welchem Fenster lag das Behandlungszimmer?
Wie gut man sieht, hängt von so vielen Dingen ab , hatte sie gesagt. Es war Viertel vor zwei. Konnte er um diese Zeit einfach hinaufgehen? Er ging einige Straßen weiter und blieb vor einem Geschäft für Herrenbekleidung stehen. Du könntest dir ruhig mal was Neues zum Anziehen kaufen. Die Schülerin Florence, das Mädchen in der ersten Reihe, hatte die Gleichgültigkeit seinem Äußeren gegenüber anziehend gefunden. Der Ehefrau war sie bald auf die Nerven gegangen, diese Einstellung. Schließlich lebst du nicht allein. Und dafür reicht Griechisch nicht. In den neunzehn Jahren, in denen er nun wieder allein gelebt hatte, war er nur zwei-, dreimal in einem Kleidergeschäft gewesen. Er hatte es genossen, daß ihm niemand einen Vorwurf machte. Waren neunzehn Jahre Trotz genug?
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