Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Zögernd betrat er das Geschäft.
Die beiden Verkäuferinnen gaben sich alle erdenkliche Mühe mit ihm, dem einzigen Kunden, und am Ende holten sie noch den Geschäftsführer. Stets von neuem sah sich Gregorius im Spiegel: zuerst in Anzügen, die einen Bankier aus ihm machten, einen Opernbesucher, einen Lebemann, einen Professor, einen Buchhalter; später in Jacken, die vom zweireihigen Blazer bis zum Sportsakko reichten, das an einen Ausritt im Schloßpark denken ließ; schließlich in Ledersachen. Von all den begeisterten portugiesischen Sätzen, die auf ihn niederprasselten, verstand er keinen einzigen, und er schüttelte nur immer wieder den Kopf. Schließlich verließ er das Geschäft in einem Anzug aus grauem Kord. Unsicher betrachtete er sich einige Häuser weiter in einem Schaufenster. Paßte der feine weinrote Rollkragenpullover, den er sich hatte aufdrängen lassen, zum Rot des neuen Brillengestells?
Ganz plötzlich dann verlor Gregorius die Nerven. Mit schnellen, wütenden Schritten ging er zum Toilettenhäuschen auf der anderen Straßenseite und zog sich wieder die alten Sachen an. Als er an einer Einfahrt vorbeikam, hinter der sich ein Berg von Schrott türmte, stellte er die Tüte mit den neuen Kleidern ab. Dann ging er langsam in die Richtung, in der die Ärztin wohnte.
Kaum hatte er ihr Haus betreten, hörte er oben die Tür gehen, und dann sah er sie in wehendem Mantel herunterkommen. Jetzt wünschte er, den neuen Anzug anbehalten zu haben.
»Ach, Sie sind’s«, sagte sie und fragte, wie es ihm mit der neuen Brille gehe.
Während er erzählte, trat sie auf ihn zu, faßte an die Brille und prüfte, ob sie richtig saß. Er roch ihr Parfum, eine Strähne ihres Haars streifte sein Gesicht, und einen winzigen Augenblick lang verschmolz ihre Bewegung mit derjenigen von Florence, als sie ihm das erstemal die Brille abgenommen hatte. Als er von der unwirklichen Wirklichkeit sprach, die die Dinge auf einmal hatten, lächelte sie und sah dann auf die Uhr.
»Ich muß auf die Fähre, einen Besuch machen.« Etwas in seinem Gesicht mußte sie stutzig gemacht haben, denn sie hielt mitten in der Bewegung des Weggehens inne. »Waren Sie schon einmal auf dem Tejo? Möchten Sie mitkommen?«
An die Autofahrt hinunter zur Fähre erinnerte sich Gregorius später nicht mehr. Nur daran, daß sie mit einer einzigen flüssigen Bewegung in eine Parklücke hineingefahren waren, die viel zu klein erschien. Dann saßen sie auf dem oberen Deck der Fähre, und Mariana Eça erzählte von dem Onkel, den sie besuchen wollte, dem Bruder ihres Vaters.
João Eça lebte drüben in Cacilhas in einem Pflegeheim, sprach kaum ein Wort und spielte den ganzen Tag berühmte Schachpartien nach. Er war Buchhalter in einem großen Betrieb gewesen, ein bescheidener, unscheinbarer, beinahe unsichtbarer Mann. Niemand konnte auf die Idee kommen, er arbeite für den Widerstand. Die Tarnung war perfekt. Er war siebenundvierzig, als Salazars Schergen ihn holten. Als Kommunist wurde er wegen Hochverrats zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Jahre später holte ihn Mariana, die Lieblingsnichte, vor dem Gefängnis ab.
»Das war im Sommer 1974, wenige Wochen nach der Revolution, ich war einundzwanzig und studierte in Coimbra« sagte sie jetzt mit weggedrehtem Kopf.
Gregorius hörte sie schlucken, und jetzt wurde ihre Stimme rauh, um nicht zu brechen.
»Ich habe mich von dem Anblick nie erholt. Er war erst neunundvierzig, aber die Folter hatte einen alten, kranken Mann aus ihm gemacht. Er hatte eine volle, sonore Stimme besessen; jetzt sprach er heiser und leise, und seine Hände, die Schubert gespielt hatten, vor allem Schubert, waren entstellt und zitterten unaufhörlich.« Sie holte Atem und setzte sich ganz aufrecht hin. »Nur der unerhört gerade, unerschrockene Blick aus den grauen Augen – er war ungebrochen. Es dauerte Jahre, bis er es mir erzählen konnte: Sie hatten ihm glühende Eisen vor die Augen gehalten, um ihn zum Reden zu bringen. Immer näher waren sie gekommen, und er hatte darauf gewartet, jeden Moment in einer Welle von glühendem Dunkel zu versinken. Doch sein Blick wich den Eisen nicht aus, er ging durch ihre Härte und Glut hindurch und durchschnitt jenseits davon die Gesichter seiner Peiniger. Diese unglaubliche Unbeugsamkeit ließ sie innehalten. ›Seither fürchte ich mich vor nichts mehr‹, sagte er, ›buchstäblich vor nichts.‹ Und ich bin sicher: Er hat nicht das geringste preisgegeben.«
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