Nachtzug nach Lissabon: Roman (German Edition)
Land.
»Dort drüben«, sagte sie, und jetzt hatte ihre Stimme wieder die gewohnte Festigkeit, »das ist das Heim.«
Sie zeigte ihm eine Fähre, die einen größeren Bogen beschrieb, so daß man die Stadt noch aus einer anderen Perspektive sehen konnte. Dann blieb sie einen Augenblick unschlüssig stehen, es war ein Zögern, in dem sich das Bewußtsein einer Intimität zwischen ihnen verriet, die sich überraschend schnell ergeben hatte, ohne jetzt fortgesetzt werden zu können, und vielleicht auch der erschrockene Zweifel, ob es richtig gewesen war, so viel von Jão und von sich selbst preiszugeben. Als sie schließlich in Richtung Heim davonging, sah ihr Gregorius lange nach und stellte sich vor, wie sie mit einundzwanzig Jahren vor dem Gefängnis gestanden hatte.
Er fuhr zurück nach Lissabon und machte dann die ganze Fahrt über den Tejo noch einmal. João Eça war im Widerstand gewesen, Amadeu de Prado hatte für den Widerstand gearbeitet. Resistência : Die Ärztin hatte ganz selbstverständlich das portugiesische Wort benützt – als könne es für diese Sache, diese heilige Sache, kein anderes Wort geben. Aus ihrem Mund hatte das Wort, mit leiser Eindringlichkeit gesprochen, eine berauschende Klangfülle besessen, und es war dadurch zu einem Wort mit mythischem Glanz und mystischer Aura geworden. Ein Buchhalter und ein Arzt, fünf Jahre auseinander. Beide hatten sie alles riskiert, beide hatten sie mit perfekter Tarnung gearbeitet, beide waren sie Meister der Verschwiegenheit und Virtuosen der versiegelten Lippen gewesen. Hatten sie sich gekannt?
Als er wieder an Land war, kaufte Gregorius einen Stadtplan mit einer besonders genauen Karte vom Bairro Alto. Beim Essen legte er sich eine Marschroute für die Suche nach dem blauen Haus zurecht, in dem immer noch Adriana de Prado wohnen mochte, alt und ohne Telefon. Als er das Lokal verließ, begann es zu dämmern. Er nahm eine Straßenbahn ins Alfama-Viertel. Nach einer Weile fand er die Einfahrt mit dem Schrotthaufen. Die Tüte mit seinen neuen Kleidern stand noch da. Er nahm sie, hielt ein Taxi an und ließ sich ins Hotel fahren.
12
Früh am nächsten Morgen trat Gregorius in einen Tag hinaus, der grau und neblig begann. Ganz gegen seine Gewohnheit war er gestern abend schnell eingeschlafen und in eine Flut von Traumbildern eingetaucht, in denen es in unbegreiflicher Folge um Schiffe, Kleider und Gefängnisse gegangen war. Obgleich unbegreiflich, war das Ganze nicht unangenehm gewesen und weit von einem Alptraum entfernt, denn die wirren, rhapsodisch wechselnden Episoden waren unterlegt gewesen von einer unhörbaren Stimme, die eine überwältigende Gegenwart besaß und einer Frau gehörte, nach deren Namen er in fiebriger Hast gesucht hatte, als hinge sein Leben davon ab. Genau im Augenblick des Aufwachens dann war ihm das Wort eingefallen, dem er nachgejagt war: Conceição – der schöne, märchenhafte Teil im vollen Namen der Ärztin, der auf der Messingplatte beim Eingang zur Praxis stand: Mariana Conceição Eça. Als er sich den Namen leise vorgesagt hatte, war aus dem Vergessen eine weitere Traumszene aufgetaucht, in der ihm eine Frau von rasch wechselnder Identität die Brille abnahm, indem sie sie fest auf seine Nase drückte, so fest, daß er den Druck jetzt noch spürte.
Es war ein Uhr nachts gewesen, und an ein erneutes Einschlafen war nicht zu denken. Und so hatte er in Prados Buch geblättert und war bei einer Aufzeichnung hängengeblieben, die die Überschrift trug: CARAS FUGAZES NA NOITE. FLÜCHTIGE GESICHTER IN DER NACHT .
Begegnungen zwischen Menschen sind, so will es mir oft scheinen, wie das Kreuzen von besinnungslos dahinrasenden Zügen in tiefster Nacht. Wir werfen flüchtige, gehetzte Blicke auf die Anderen, die hinter trübem Glas in schummrigem Licht sitzen und aus unserem Blickfeld wieder verschwinden, kaum daß wir Zeit hatten, sie wahrzunehmen. Waren es wirklich ein Mann und eine Frau, die da vorbeiflitzten wie Phantasmata in einem erleuchteten Fensterrahmen, der aus dem Nichts auftauchte und ohne Sinn und Zweck hineingeschnitten schien in das menschenleere Dunkel? Kannten sich die beiden? Haben sie geredet? Gelacht? Geweint? Man wird sagen: So mag es sein, wenn fremde Spaziergänger in Regen und Wind aneinander vorbeigehen; da mag der Vergleich etwas für sich haben. Aber vielen Leuten sitzen wir doch länger gegenüber, wir essen und arbeiten zusammen, liegen nebeneinander, wohnen unter einem Dach. Wo ist da die
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