Nathanael
früher bei seinem Anblick vor Ehrfurcht erstarrt und auf die Knie gefallen waren.
«Das Licht am Ende der Nacht», hatte seine Mutter Michael immer liebevoll genannt, wenn er sie besuchte, was recht selten vorkam. Sie war mit siebzehn aus dem Waisenhaus geflohen und verbrachte ihr Leben auf der Straße. Drogen und Diebstahl gehörten zur Tagesordnung.
Michael hatte sie halb verhungert in den Slums aufgelesen und zu Ordensfrauen gebracht, die sich ihrer annahmen und ihr sogar einen Schulbesuch ermöglichten. Er war für sie der Retter, der Held. Von tiefer Dankbarkeit erfüllt, sah sie ihn stets in verklärtem Licht. Widerspruchslos nahm sie es sogar hin, dass Michael ihren einzigen Sohn nach Rom mitnahm, um ihn auf seine Aufgabe als Blutengel vorzubereiten.
Wenn Nathanael sie besuchte, spürte er, wie sehr sie unter der Trennung litt, obwohl sie nie darüber sprach. Dass sie alles so hinnahm, diese Demut, enttäuschte ihn. Es schürte gleichzeitig seine Abneigung gegen den Vater, der ihn mit Strenge zu einem Leben voller Disziplin erzog und ihn von der geliebten Mutter trennte.
Auch heute verhieß Michaels grimmige Miene nichts Gutes. Nathanael ahnte sofort, weshalb er gekommen war. Im Geist legte er sich die Argumente zurecht, die er vorbringen wollte. Schlechte Argumente, wie er zugeben musste.
Die Hände in die Hüften gestützt, trat Michael auf ihn zu.
«Nun, wie weit ist dein Auftrag erfüllt?» Michaels sanfte Stimme milderte nicht den harten Blick, den er Nathanael zuwarf.
«Ich war nahe dran, aber ein Dämon ist mir entwischt … Ich …»
Dafür hatte er Menschenleben gerettet.
«Wegen eines Weibes!» Die Stimme seines Vaters war schneidend, sein Blick vernichtend. Seine Schwingen peitschten durch die Luft. Ein Flügelschlag konnte ihn niederstrecken.
Immer hörte er nur Vorwürfe. Nathanael war es leid. «Ich hasse deine ständigen Vorhaltungen und mich rechtfertigen zu müssen. Der Gefallene wollte ihre Seele. Es war meine Pflicht , sie zu retten!», donnerte er zurück.
«Danach hättest du ihn im Staub zertreten müssen. Je länger er sich in der irdischen Welt aufhält, desto mehr werden ihm folgen. Vielleicht noch weitere Gefallene. Das Desaster wäre nicht auszudenken.»
«Das ist mir bewusst und ich werde ihn kriegen.»
«Wenn du nicht wieder deiner Lust nachgibst.»
«Lust? Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet du mir das vorwirfst, wo du ihr selbst erlegen bist. Denkst du, besser als ich …»
«Schweig!», fiel ihm Michael zornig ins Wort. «Lenk nicht von dir ab.» Michaels Mundwinkel zogen sich nach unten. Er beugte sich vor. «Und ich habe geglaubt, du hättest aus deinen Fehlern gelernt.» Seine Lippen zitterten vor unterdrücktem Zorn.
«Und wie ist es mit dir? ‹Der werfe den ersten Stein, der unter euch ohne Sünde ist.›»
Michael öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber wider Erwarten schwieg er. Mit einem Mal wirkte der Engel müde, und das Licht, das ihn umgab, verlor seinen Glanz, als hätte jemand es gedimmt. Er breitete die Arme aus und sah zum Himmel auf, als kommuniziere er gerade geistig mit dem Schöpfer.
Nathanael sah vor seinem inneren Auge seinen Vater, der Luzifers Gefolge mit dem Flammenschwert vertrieb, entschlossen, alle zu vernichten. Genau das war es, was er auch von ihm erwartete.
Für Dämonen oder Gefallene empfand er kein Mitleid, weil sie die Gegner Gottes waren. Michael würde auch nicht einen Moment lang zögern, Tessa zu töten, wenn der Schöpfer es von ihm verlangte. Was für ein gehorsamer Diener.
Bei diesem Gedanken wurde ihm schlecht. Michael hätte Gina damals wieder ins Leben zurückrufen können, aber er hatte es nicht getan. Vermutlich seinetwegen. Er, Nathanael, hatte Gina nicht beschützt, sondern auf ganzer Linie versagt. Er ganz allein trug die Schuld an ihrem Tod. Was verlangte er da göttliche Gnade? Die wäre sinnlos, denn er selbst könnte sich nie verzeihen.
«Besinne dich lieber auf deinen Auftrag. Vernichte endlich die Höllenbrut», forderte Michael.
«Daran brauchst du mich nicht ständig zu erinnern. Ich weiß selbst, was zu tun ist.»
Nathanael ballte wütend die Hände. Michael sog geräuschvoll die Luft ein.
«Lass mich wissen, wenn es vollbracht ist.» Nach diesen Worten schwang er sich in die Luft. Nathanael sah seinem Vater nach, wie er immer höher emporstieg, bis ihn die Nacht endlich verschluckte.
Nachdenklich betrat Nathanael wenig später die Bar. Er betrachtete die illustre Gästeschar, die
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