Nayidenmond (German Edition)
in der Nähe, versprochen!“ Er riss sich los und verschwand mit langen Schritten zwischen den Bäumen. Abstand war das Einzige, was ihn jetzt noch abhalten konnte, etwas wirklich Unüberlegtes zu tun. Er hatte seine Seele bloßgelegt, seine Liebe gestanden, und dadurch alles verloren. Triebe! Als ob es hier allein darum gehen würde!
Er schlug mit beiden Fäusten gegen einen Baumstamm, bis der Schmerz seiner zerschrammten Hände stärker war als der Schmerz in seinem Inneren. Dann ließ er sich zu Boden sinken und starrte ins Leere. Was sollte er denn jetzt tun? Wie sollte er Iyen gegenübertreten? Wie sollte er noch weitere endlose Tage und Nächte an seiner Seite verbringen, so nah, ohne ihn berühren zu dürfen?
11.
„Und wenn das Unheil sein Raubtiergesicht zeigt, muss er entscheiden, wessen Leben er opfert, um das Heil zu finden.“
Aus: „Weissagungen des Ebano“
Iyen blieb wie betäubt zurück. Wenn er jemals gezweifelt hatte, ob er überhaupt ein Herz besaß: Jetzt wusste er es, denn es schmerzte so sehr, als würde es in Stücke brechen. All die Grausamkeiten, die er begangen hatte, waren ihm leichter gefallen, als Rouven abzuweisen. Er hasste sich für den Schmerz, den er ihm zugefügt hatte und noch viel mehr für seine Schwäche zuvor. Hätte er ihn nicht geküsst, wäre das hier nicht nötig gewesen! Es war seine Schuld, er hätte ihn nicht zu den Kampfübungen auffordern sollen, oder sie wenigstens rechtzeitig beenden, als er spürte, was sie bei ihnen beiden auslöste.
Wie kann er mich nur begehren, hässlich, wie ich bin! Wie kann er dieses Gesicht berühren wollen? Er muss doch verstehen, dass ein Oshanta nichts als Tod und Leid bedeutet! Es muss die Angst um sein Leben sein, die ihn wieder dazu treibt, sich an mich zu klammern.
Mit geschlossenen Augen blieb er sitzen und versuchte, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Die hartnäckige Stimme in seinem Hinterkopf zu ignorieren, die ihm einflüstern wollte, Rouven zurückzuholen und um Verzeihung zu bitten und all das mit ihm anzustellen, wonach es seinen gierigen Körper schon viel zu lange verlangte.
Er will es auch! Er scheint dabei lediglich Begehren und Liebe zu verwechseln. Warum sollte er mich wohl lieben, MICH, einen dreckigen Oshanta!
„Rouven ist kein kleiner Junge mehr, er muss den Unterschied kennen“, flüsterte die Stimme erbarmungslos.
Er ist so emotional, wahrscheinlich liebt er mich jetzt und beim ersten richtigen Streit fällt er vor Hass in sich zusammen, hielt Iyen verzweifelt dagegen. Aber er wusste, so war es nicht. Die innere Zerbrechlichkeit war nur vorgetäuscht, nur ein Schutzschild. So widersinnig das auch klingen mochte.
Völlig absurd für einen Mann. Iyen schüttelte den Kopf über sich selbst, warum war ihm das bislang nicht klar geworden? Frauen können so etwas vortäuschen, weil man von ihnen erwartet, dass sie empfindlich sind und über jede verwelkte Blume weinen. Eine Frau kann sich hinter dem Anschein eines überspannten, kindischen Weibchens verstecken und hinter dieser Maske so hart oder intrigant sein, wie sie will. Oder eben klug und ernsthaft. Viele adlige Frauen gaben sich so, damit sie neben den zahlreichen anderen Ehefrauen ihres Mannes auffielen und von ihm nicht vergessen wurden. Man erwartete von ihnen, dass sie ständig lachten, weinten, vor Wut kreischten, albern kicherten, vor Freude in die Hände klatschten wie kleine Kinder…
Warum sollte man von Rouven erwarten, dass er sich so kindisch, so weibisch benimmt? Er fügt sich in die Rolle, die man ihm stumm aufzwingt, auch, wenn es ihm schadet, weil man ihm vorwirft, sich nicht wie ein richtiger Mann zu benehmen. Warum will man nicht, dass er sich als der Mann gibt, der er wahrhaftig ist? WER will das nicht?
In Kyarvit sind die Dinge wahrhaftig nicht so, wie sie scheinen.
Plötzlich zuckte er zusammen, alle seine Sinne waren hellwach, durchdrangen die Finsternis zwischen den Bäumen. Er hatte nichts Verdächtiges gehört. Er konnte auch jetzt nichts hören – gar nichts. Keine nächtlichen Vögel oder Raubtiere, kein Knacken im Unterholz, nichts. Selbst der Wind schwieg, so als würde die Welt den Atem anhalten. Wie von selbst sprangen ihm die Schwerter in die Hände und er schlich geduckt in die Richtung, in die Rouven verschwunden war.
Ein Schrei halte durch den Wald, ein Schrei voller Qual und Todesangst. Rouven! Iyen schloss für einen Moment die Augen. Er hätte ihn nicht gehen lassen dürfen, ihn mit
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