Nebenweit (German Edition)
vorzubestellen, während ich meine Sachen packte und aus dem Hotel auscheckte, anschließend würden wir mit dem Taxi zur Tokyo-Station fahren, wo alle zehn Minuten ein ›Kodama-Bullet-Train‹ in Richtung Odawara fuhr.
Auch dieses andere Japan hatte sich seine sprichwörtliche Effizienz bewahrt, und so standen wir tatsächlich etwas über eine halbe Stunde später am Bahnsteig und sahen die stumpfe blaue Nase des weltberühmten Hochgeschwindigkeitszuges auf uns zugleiten. Wagen 27, in dem wir unsere Plätze gebucht hatten, hielt exakt an der entsprechenden Markierung am Bahnsteig. Wir stiegen ein, nahmen auf den für europäische Verhältnisse etwas schmal geratenen, mit grünem Plüsch bezogenen Sitzen am Fenster Platz, als der Zug sich auch schon kaum hör- und spürbar in Bewegung setzte.
Das war alles so schnell gegangen, dass ich die ersten paar Minuten nur stumm zusah, wie draußen das Häusermeer Tokios immer schneller an uns vorbeiglitt. Tanabe schien zu spüren, dass ich etwas Abstand brauchte, und blieb daher eine Weile stumm. Erst als wir den Häuserbrei hinter uns gelassen hatten und draußen die ersten Reisfelder auftauchten, meldete er sich wieder zu Wort. »Wer ist denn jetzt in den USA Präsident?«, erkundigte er sich, was mich daran erinnerte, dass er ja seit ebenso vielen Jahren von seiner Welt ebenso abgeschnitten war, wie das bei mir Wochen waren.
Da ich vermutete, dass ihn die immer noch anhaltende Euro-Schuldenkrise nicht sonderlich interessieren würde, beschränkte ich mich auf eine kurze Schilderung des Dritten Golfkriegs, der nach dem beherzten Eingreifen der USA nicht nur zum Sturz der Regierungen in Teheran und Tel Aviv geführt, sondern Barack Obama auch eine triumphale Wiederwahl beschert hatte, streifte kurz das Wiederaufflammen der Kämpfe in Afghanistan nach dem Abzug der NATO-Truppen und den sich noch beschleunigenden Aufstieg Chinas zur Weltmacht, der offenbar von der sich dort abzeichnenden Wirtschaftskrise kaum beeinträchtigt wurde.
Tanabe hörte mir fasziniert zu. »Ich frage mich manchmal, ob es mir nicht in Wirklichkeit hier besser gefällt«, meinte er dann. »Wir leben zwar unter einer Art Militärdiktatur, aber meine Landsleute spüren das kaum. Schließlich kennen sie seit fast hundert Jahren nichts anderes – auch wenn sie sich einbilden, der Tenno hätte die Zügel in der Hand. Aber dafür sind wir eine Weltmacht und leiden nicht unter einer seit bald zwanzig Jahren nicht bewältigten Wirtschaftskrise. Wir haben Vollbeschäftigung, alle haben zu essen, die Gesundheitsvorsorge kommt allen zugute und mit der Welt haben wir auch unseren Frieden gemacht.«
»Oder die Welt mit Ihnen«, warf ich ein, worauf er etwas wehmütig nickte. »Ja, das haben wir wohl in erster Linie euch Europäern zu verdanken. Die Briten wollten sich ja nicht so ohne Weiteres damit abfinden, dass sie nicht mehr die alleinige Hegemonialmacht im Pazifik sind. Und für die Weltwirtschaft ist es wahrscheinlich besser, dass wir die Chinesen unter Kontrolle halten. Ehrlich gesagt, beuten wir sie ja aus, aber das ist hier keinem bewusst. Sie haben sich mit uns arrangiert und wahrscheinlich weniger unter dem Krieg mit uns gelitten als unter dem Schreckensregiment Maos und seiner Roten Garden in unserer Welt. In dieser Welt war Mao ein kleiner Guerillaführer, den irgendwann eine japanische Einheit zur Strecke gebracht hat. Und Deng Hsiao Peng, dem ja das China, das wir beide kennen, sein Wirtschaftswunder zu verdanken hat, war in dieser Welt am Ende seiner Laufbahn Universitätsprofessor in Shanghai und hat seinen Landsleuten klargemacht, dass sie unter japanischer Oberherrschaft am schnellsten Anschluss an den Westen finden würden.«
»Hat sich denn Ihr Militär von all den Grausamkeiten im Zweiten Weltkrieg verabschiedet, für die es in unserer Welt berüchtigt war?«, erkundigte ich mich und fragte mich, kaum dass die Worte über meine Lippen gekommen waren, ob das eine kluge Frage gewesen war. Taktvoll war sie jedenfalls nicht.
Aber Tanabe machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das hat sich nach den ersten Gräueln in Nanking schnell gelegt, und das ist jetzt ja auch über siebzig Jahre her. Die Rechnung unserer Militärs ist aufgegangen: Die Chinesen und später auch die Filipinos haben wie die Koreaner und Taiwaner schnell erkannt, dass sie mit uns besser fahren als mit europäischen oder chinesischen Kolonialherren, und haben sich uns und in ihr Schicksal ergeben. Und heute sind das alles
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