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Nebenweit (German Edition)

Nebenweit (German Edition)

Titel: Nebenweit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Zwack
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finde ich«, nickte Carol. »Ich kann ja schließlich vergleichen. Wo ich herkomme, gibt es jede Menge Bettler, das weißt du ja auch. Hier habe ich noch keinen einzigen gesehen. Und wer krank ist, braucht sich auch keine Sorgen zu machen, die ärztliche Versorgung ist für alle Bürger kostenlos, sie wird aus Steuermitteln finanziert. Und wenn man genügsam lebt, kann man mit 1200 Talern gut zurechtkommen, zumal der Betrag alle drei Jahre angepasst wird. Aber die Schweizer waren ja immer schon ein bisschen eigensinnig.«
    Wir saßen noch gut zwei Stunden da, das Fernsehen hatten wir ausgeschaltet, und diskutierten all die Unterschiede, die es zwischen ›hier‹ und ›dort‹ gab. So erfuhr ich zu meiner großen Verblüffung, dass der Deutsche Bund immer noch einen Kaiser hatte, einen aus dem Haus Habsburg-Hohenzollern namens Franz Wilhelm II., der abwechselnd in Berlin und Wien residierte und zwar ohne jeglichen formellen politischen Einfluss war, aber hohes Ansehen genoss und an der Spitze der protokollarischen Pyramide stand. Die beiden Herrscherhäuser des Nord- und Südreichs, wenn man sie so nennen wollte, hatten sich vor etwa fünfzig Jahren durch Heirat vereint, sodass der Deutsche Bund seitdem nur mehr einen, immer noch recht kostspieligen Hof hatte, der jedoch von der auch hier vorhandenen Gelben Presse stets in den Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt wurde. Der Kaiser stand protokollarisch über dem Präsidenten des Bundestages und dem Bundeskanzler, Guido Westerwelle, mir aus meiner Welt als Außenminister bekannt. Schwul war er übrigens auch in dieser Welt. Wie wir so plauderten und uns gegenseitig über die Verhältnisse in unseren jeweiligen Heimatwelten unterhielten, verging die Zeit wie im Flug, und wenn man vom Thema absah, hätten wir uralte Bekannte sein können, die sich gut verstanden.
    Schließlich wurde ich müde, ich war heute um halb fünf aufgestanden, um rechtzeitig am Flughafen zu sein, und sagte das auch Carol, um mich dann mit einen gemurmelten »Gute Nacht« zu verabschieden. Carol erklärte, sie wolle mit Charlie noch einmal kurz vor die Tür gehen und sich dann auch bald schlafen legen. Als sie eine halbe Stunde später im gemeinsamen Schlafzimmer erschien und wortlos und ohne das Licht einzuschalten, in ihr Bett stieg, stellte ich mich schlafend, registrierte aber befriedigt, dass die Dinge sich zwischen uns zu normalisieren begannen.
    Was blieb uns auch anderes übrig …
    ***
     
    Ich stand auf einer kleinen, grasbewachsenen Anhöhe und blickte auf ein Flusstal hinab, einen breiten Fluss, der sich in weiten Schleifen durch die Landschaft wälzte und dessen Ufer Büsche und Schilf säumten. Vielleicht einen Kilometer von mir entfernt lag ein Segler am Ufer, man konnte Menschen sehen, die irgendwelche Lasten in den Bauch des Schiffes schleppten. Mein Auge wanderte weiter, entlang des Weges, auf dem die Menschen mit ihren Lasten unterwegs waren, entdeckte eine von einem Palisadenzaun umgebene Ansiedlung aus Hütten und einigen Ziegelbauten unterschiedlicher Größe. Von einigen Dächern konnte man Rauch aufsteigen sehen. Dem Stand der Sonne nach zu schließen war es Nachmittag. Rings um den Palisadenzaun, der nicht sonderlich hoch war, also nicht unbedingt der Verteidigung dienen musste, möglicherweise einfach den Bautraditionen dieser Menschen entsprach, dehnten sich abgeerntete Felder, auf denen Strohballen lagerten.
    Ich sah mich um, sah nichts als flaches, grasbedecktes Land, nirgends Wald oder Büsche, sah man von den Sträuchern am Flussufer ab. Den Horizont säumte das Dunkel ausgedehnter Wälder. Das Dorf interessierte mich, ich wollte es in Augenschein nehmen, dabei aber selbst nicht gesehen werden. Schließlich konnte ich ja nicht wissen, wie die Menschen dort unten auf Fremde zu sprechen waren. Wenn ich mehr erfahren wollte, musste ich also hinunter zum Fluss, musste mich im Schutz der Büsche näher heranpirschen.
    Dann stand ich plötzlich im Dorf, auf einer Art Marktplatz. Das schloss ich aus den vielen Menschen, die dort umherwuselten. Männer, Frauen, Kinder und dazwischen eine Menge Hunde, die sich vor Verkaufsständen und Karren drängten, wo Hühner und Gänse feilgeboten wurden. Korn in Säcken, die auf dem Boden herumstanden, Felle, die von Stangen über den Ständen hingen, Stoffballen, alle in schmutzigem Weiß. Dann fiel mir auf, dass ich weder die Gerüche noch den Lärm wahrnahm, der sonst auf solchen Märkten herrscht, und das trotz

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