Nebenweit (German Edition)
wenn wir für heute Schluss machen und uns morgen ausführlich weiter unterhalten? Ich fürchte, im Augenblick bin ich einfach nicht mehr aufnahmefähig …«
»Aber selbstverständlich, verzeihen Sie, ich rede zu viel«, fing mein Gegenüber sofort an, sich zu entschuldigen.
Aber ich ließ ihn nicht ausreden. »Nein, nein, ganz im Gegenteil, es gibt so viel, worüber wir reden müssen. Haben Sie morgen Zeit? Gegen zehn vielleicht?«
Tanabe war sofort einverstanden, und wir kamen überein, dass er wieder zu mir ins Hotel kommen würde.
***
Als ich schließlich im Bett lag, eingehüllt in den obligatorischen yukata, bei dem einem ständig die Beine unbedeckt blieben, an den ich mich aber aus meiner Zeit in Tokio noch auf das Angenehmste erinnerte, war die Müdigkeit verflogen. Ich war gegen zehn zu Bett gegangen und musste wohl noch drei Stunden wach gelegen haben, wobei ich gelegentlich versucht war, wieder aufzustehen und mich vom Fernsehen in den Schlaf wiegen zu lassen. Aber das hätte auch nicht funktioniert; das Gerät bot zwar an die fünfzig japanische Sender, aber keinen einzigen fremdsprachigen. Also wälzte ich mich von rechts nach links und umgekehrt, zupfte mir den widerspenstigen yukata zurecht und dachte über mein Gespräch mit Tanabe-san nach.
Ich weiß eigentlich nicht, warum ich mir von dem Treffen mehr versprochen hatte als nur die Bestätigung meiner Annahme, dass er ein Schicksalsgenosse aus meiner Welt war. Die hatte ich bekommen, aber war eigentlich zu erwarten gewesen, dass er mir einen Ausweg würde zeigen können, einen Weg zurück in meine eigene Welt? Wohl kaum, und ich hätte mir sogar denken müssen, dass jemand, der ein Buch wie das seine geschrieben hatte, sich schon irgendwie mit seiner neuen Umgebung arrangiert hatte. Schließlich nahm ein derartiges Projekt von der ersten Idee bis zum Erscheinen auf der Bestsellerliste selbst im günstigsten Fall mindestens ein Jahr in Anspruch. Und dass Tanabe sich arrangiert hatte, hatte sich wie ein roter Faden durch unser ganzes Gespräch gezogen. Auch wenn er selbst sich dessen vielleicht gar nicht so bewusst war.
Eine vertane Chance also? Zum Glück hatte ich auch in dieser Welt keine materiellen Sorgen, Bernhards Pension und der Ertrag aus seinem Depot bewegten sich in der gleichen Größenordnung wie meine – jetzt unerreichbar weit entfernten – Einkünfte. Da fielen die knapp dreitausend Eurotaler für das Ticket nicht sonderlich ins Gewicht. Aber weiterführende Erkenntnisse? Nein, das konnte ich vergessen. Na schön, ich würde eben das Beste aus der Reise machen, mein Wissen um das Geschehen in dieser Welt mithilfe eines intelligenten Beobachters, der bereits mehrere Jahre hier weilte, vertiefen und mir ein eigenes Bild von diesem Japan machen, das gerade im Begriff war, wieder zu einem angesehenen Mitglied der Völkergemeinschaft zu werden.
Mit diesen Gedanken musste ich irgendwann eingeschlafen sein. Ich träumte, ich säße in einem japanischen Nachtclub und ließe mich von einer ganzen Runde munter plappernder Geishas verwöhnen. An eine von ihnen, die sich besonders um mich bemüht hatte, konnte ich mich auch beim Aufwachen noch mit einer gewissen Wehmut erinnern und fragte mich – nicht ganz realitätsbezogen –, ob man wohl diese Bekanntschaft in einem längeren Traum noch auf angenehme Weise hätte vertiefen können. Dabei wusste ich doch aus den drei Jahren meines Japaneinsatzes, dass diese Blüten der Nacht nur zum Ansehen, vielleicht auch zum Anfassen, aber ganz sicher zu nichts mehr gedacht waren. Zumindest für Normalsterbliche unterhalb der Wirtschaftskapitänsklasse.
Jacques Dupont/Obertix
Geboren 97 Stäbe nach dem Großen Feuer in Luteta im Land des Volkes. Nach Schulbesuch in Luteta Studium der Medizin an der Universität München.
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Vielleicht war ich Menax gegenüber ein wenig zu schroff gewesen, ging mir durch den Sinn, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dass er Lukas aus den Augen verloren hatte und ich somit seit drei Tagen nicht wusste, was dieser Mann gerade anstellte, war wirklich ärgerlich. Aber Menax konnte man fairerweise daraus keinen Vorwurf machen. ›Fairerweise‹, ein Wort aus der Welt der Anderen, für das es bei uns keine Entsprechung gab, weder in der Sprache noch in der Begriffswelt. Aber ich dachte schon lange Deutsch, träumte auch in dieser Sprache. Kein Wunder, schließlich hatte ich von meinen vierzig Jahren über zwanzig hier
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