Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
Kunststück. Hjelm und Sifakis hatten hart daran gearbeitet, die passenden Worte für Yunli vorzubereiten. Sie würden sehen, ob die Zwillinge tatsächlich – wider Erwarten – für die Fragen ihrer Mutter empfänglich sein würden.
Nach ein paar Minuten rollte tatsächlich der nächste Touristenbus auf den Rembrandtplein. Die Türen öffneten sich, und eine erstaunliche Anzahl Chinesen strömte heraus. Wang Yunlis Lieblingsfarbe sei Rot, hatte Hjelm gesagt, weshalb sie rote Kleidung tragen sollte, das hatte sie immer getan. Außerdem könnte es etwas bei den Brüdern auslösen.
Niemand konnte mehr ernsthaft behaupten, alle Chinesen würden dieselbe Kleidung tragen – die Kulturrevolution lag wahrlich lange genug zurück –, trotzdem befanden sich mehrere Rotgekleidete in dem Menschenstrom. Eine Frau trug jedoch ein Kleid, ein rotes Kleid, und ihr gelang es, sich unter eine kleine Gruppe sich lebhaft unterhaltender Menschen zu mischen, die sich auf das Café zubewegten, in dem Cheng und Shuang Ricci vor ihren überdimensionierten Teetassen saßen.
Corine Bouhaddi senkte den Kopf und beobachtete die Szene aus den Augenwinkeln. Sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie dieses Wiedersehen miterleben wollte, wie auch immer es ausgehen mochte. Entweder würde sie die Pistole zücken oder vor Peinlichkeit versinken müssen.
Da sprang einer der Zwillinge auf. Bouhaddi wusste mittlerweile, dass er zu den Menschen gehörte, deren Mienenspiel sich selten radikal veränderte. Aber jetzt tat es das. Der sitzende Zwilling sah die Reaktion seines Bruders und griff mit beeindruckender Geschwindigkeit zur Waffe – Bouhaddi klopfte das Herz bis zum Hals –, aber auf eine Geste des Stehenden hin verschwand die Waffe ebenso schnell wieder in der Jeansjacke. Niemand hatte etwas bemerkt. Vor allem nicht die Frau in dem roten Kleid, die jetzt vermutlich schwer mit alten, tiefen Gefühlen in ihrem Herzen kämpfte, der es aber dennoch gelang, das harmlose Geplauder mit ihren vermeintlichen Mitreisenden fortzusetzen.
Hjelms Plan war aufgegangen. Die Zwillinge hatten ihre Mutter entdeckt und nicht umgekehrt. Das ließ die Szene sehr viel glaubwürdiger erscheinen.
Der stehende Zwilling rief etwas. Wang Yunli sah in seine Richtung und schlug die Hand vor den Mund. Sie ließ den Reiseführer fallen. Auf wackligen Beinen näherte sie sich dem Cafétisch.
Bouhaddi benötigte weder eine Pistole, noch musste sie im Erdboden versinken. Stattdessen brauchte sie Geduld, sehr viel Geduld. Nach den ersten unbeholfenen, aber unverkennbar herzlichen Umarmungen setzte sich Wang Yunli an den Tisch ihrer Söhne. Sie umschloss ihre Hände, mal Chengs, mal Shuangs, dann beide, und ein stundenlanges Gespräch nahm seinen Anfang.
Donatella Bruno saß ihnen am nächsten, und sie war es auch, die das Richtmikrofon in Form eines Handys auf das Trio richtete. Ihre Aufgabe war es, Worte aufzunehmen, die sie nicht verstand, die niemand in der Opcop-Gruppe verstand. Aber Corine Bouhaddi, außer Hörweite, meinte fast alles zu verstehen. Es war ein Gespräch über drei Leben, die mit einer einzigen Handlung zerstört worden waren. Es war ein Gespräch über die Heimat. Ein Gespräch über das Leben der Zwillinge, und es war ein Gespräch über ihre uneingeschränkte Loyalität, die nur der Tod brechen konnte. Und so endete es – in Tränen. Und mit zunehmend hektischeren Blicken auf die Uhr. Zuletzt blieb Wang Yunli allein zurück.
In ihrem schönen roten Kleid sah sie sehr, sehr traurig aus. Schließlich stand sie auf und lief eine Straße hinunter, den Halvemaansteeg. Sie ging, als sei sie nur noch ein halber Mensch.
Bouhaddi und Bruno folgten ihr in unterschiedlich großen Abständen. Sie sahen häufiger über die Schulter als nach vorn, aber es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass Wang Yunli verfolgt wurde. Wie verabredet betrat sie das vereinbarte Café, in dem sie Kerstin Holm und Paul Hjelm erwarteten.
Als Bouhaddi und Bruno hereinkamen, saß Wang Yunli über den Tisch gebeugt zusammengesunken auf einem Stuhl. Holm hatte die Arme um sie gelegt. Hjelm wirkte zurückhaltender.
Als sie schließlich ihre Worte wiederfand, sagte Wang Yunli: »Morgen Abend. Sie sollen ihren Chef in einen Klub begleiten.«
»Einen Klub?«, hakte Hjelm nach.
»Club Pollino«, sagte Wang Yunli. »Um neun Uhr.«
Dann brach sie in Tränen aus.
Club Pollino
Amsterdam, 10. Juli
Es war nichts, worauf er stolz war.
Er schob die Porträts aller weiblichen
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