Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
können. Ich wollte, dass sie glücklich war, ausschließlich das. Mit gestohlenen Worten wollte ich das ausdrücken, was mir selbst in Silben zu packen unmöglich erschien, wollte mein Glück und auch meinen Schmerz, einfach alles, was zu mir gehörte, was in mir schlummerte, bedingungslos mit ihr teilen und zu einer untrennbaren Einheit mit ihr verschmelzen. Ich wollte, dass sie wusste, wie ich empfand, damit sie daran teilhaben konnte, damit es ihr so unwahrscheinlich gut ging, wie mir in diesem Augenblick. Doch meine Lippen blieben versiegelt, allein meine Hände beherrschten ihre Sprache, aber sie beherrschten sie gut, sprachen liebevoller, intensiver, einfühlsamer zu ihr, als sie je mit dem Körper einer Frau kommuniziert hatten.
Judith antwortete mir mit ihren Küssen. Ihre fiebernden Lippen liebkosten meinen Hals, wanderten meine Brust hinab, erkundeten zitternd meinen Bauchnabel. Ein weiteres Mal stahlen wir unserem Schicksal einen Augeblick des Glücks. Schließlich schleppten wir uns erschöpft zur Dusche und nahmen zum Abschied noch einmal Witterung vom Duft der Liebe, um unsere Körper letztlich dem eisigen Wasser zu übergeben.
Mit den Frottiertüchern, die Judith mitgebracht hatte und die zu vieles Waschen mit zu wenig Weichspüler in feines Schmirgelpapier verwandelt hatte, rieben wir einander wortlos trocken. Mit einem Male war es, als hätte das eiskalte Duschwasser unsere Gemeinsamkeiten im Gulli ertränkt, als sei jegliche Erregung, der Drang, einander zu berühren und zu verführen, uns gegenseitig riechend, fühlend und schmeckend zu erkunden, in einem kleinen Sturzbach mit dem kalten Nass durch den Abfluss davongelaufen. Die Sprache unserer Körper war verstummt, oder sie sprachen plötzlich verschiedene Sprachen, auf jeden Fall verstanden wir einander nicht mehr wie noch vor wenigen Minuten, ohne die Lippen zu bewegen. Judith wich meinen Blicken aus. Verwirrt fragte ich mich, was ich falsch gemacht haben könnte, was es gewesen war, was dieses unbehagliche Schweigen zwischen uns getrieben hatte, und wie Judith sich nun fühlte. Ich hatte ihr nur Gutes tun wollen, nichts getan, wogegen sie sich gewehrt oder aufbegehrt hatte. Sie sollte glücklich sein in diesen Sekunden, verdammt noch mal! Wir sollten beide glücklich sein, aber meine Unsicherheit nahm wieder überhand und ich fühlte mich nicht mehr wohl in meiner Haut.
Judith zog ein geblümtes Sommerkleid über, das eigentlich viel zu kalt war für diese Nacht, und die harten Nippel, als die sich ihre Brustwarzen unter dem dünnen Stoff abzeichneten, unterstrichen meine Vermutung.
Darüber streifte sie eine weiße Strickjacke. Erschrocken stellte ich fest, dass sich der Schuhriemen, den Ellen als Aderpresse verwendet hatte, bei unserer leidenschaftlichen Umarmung gelöst hatte und wieder beachtliche Mengen Blut aus der Schnittwunde sickerten. Vielleicht lag ja ganz einfach darin die Erklärung für ihr plötzlich derart abweisendes Verhalten, und möglicherweise hatte sie einfach Schmerzen. Aber das rechtfertigte nicht ihre Kälte mir gegenüber, dachte ich fast zornig. Sie sollte lieber zu mir kommen und sich trösten und stützen lassen. Ich wollte für sie da sein, das musste sie doch spüren!
Schweigend zog ich mich an und kehrte mit Judith in Ellens Zimmer zurück. Die Ärztin empfing uns mit einem Blick, der mir im Bruchteil einer Sekunde eine Schamröte ins Gesicht trieb, die ich heiß auf meinen Wangen spürte.
»Make love, not war«, grummelte Carl und begrüßte uns mit einem anzüglichen Grinsen und einem Blick, in dem ich mehr als nur Eifersucht zu erkennen glaubte und den ich für sich allein genommen wahrscheinlich wohl wollend zur Kenntnis genommen hätte. Ich sagte nichts, sondern ließ mich auf eines der Betten sinken. Sollten Carl und Ellen doch denken, was sie wollten – das sollte im Augenblick wirklich meine kleinste Sorge sein. Viel mehr bedrückte mich nach wie vor das, was Judith durch den Kopf gehen mochte, und außerdem kehrte nun unerbittlich das volle Bewusstsein über die beschissene Situation zurück, in der wir uns nach wie vor alle befanden.
Judith hatte anscheinend nicht einmal ansatzweise ein Problem damit, die eigentlich recht peinliche Situation zu überspielen. Sie streifte ihre Strickjacke ab und drückte sie dem Wirt in die Hand.
»Würdest du jetzt meine Wunde versorgen?«, fragte sie Ellen in einem Tonfall, als sei nichts geschehen.
Einen Moment lang wirkte die Ärztin perplex, deutete dann
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