Neschan 01 - Die Träume des Jonathan Jabbok
Berg hinauf.
Noch eine ganze Weile blieb Yonathan auf dem Weg sitzen und blickte dem Schafhirten fassungslos nach. Er verwünschte Lemor, für ihn in diesem Moment der unfreundlichste und rücksichtsloseste Mensch der Welt.
Als er sich endlich aufraffte und den Schmutz von den Kleidern klopfte, fiel ihm auf, dass er etwas verloren hatte. Das lederne Halsband mit der Hirtenflöte war nicht mehr da! Verzweifelt schaute er sich um, doch er konnte sie nirgends finden. Er musste das Instrument schon beim Kampf mit dem Erdfresser verloren haben. Es war wie eine Ironie des Schicksals: Eine alte Freundschaft war soeben zerbrochen und gleichzeitig auch das Siegel dieser Verbindung, die Flöte, – nun, vielleicht nicht zerbrochen, aber sie war fort.
Yonathan bückte sich wie betäubt nach dem Stab, den er beim Sturz verloren hatte, und setzte seinen Heimweg fort. Er fühlte sich elend, in der Ehre gekränkt und zutiefst niedergeschlagen. Er achtete nicht auf die blutrote Sonne, die soeben in die sanft gekräuselten Wellen der Kitvar-Bucht eintauchte.
Heimkehr
Als Yonathan die letzten Schritte zu der kleinen Hütte zurücklegte, die ihm und Navran seit Jahren als Heimstatt diente, waren gerade die ersten Sterne am tiefvioletten Himmel aufgegangen. Je näher er dem Häuschen kam, umso mehr verlangsamte sich sein Tempo. Was würde geschehen, wenn er jetzt gleich durch die Tür kam und Navran unter die Augen treten musste? Sicher wäre es gerechtfertigt, wenn sein Pflegevater ihm gehörig den Kopf wusch. Schließlich war er durch seine eigene Unvorsichtigkeit in die Grube gefallen, die beinahe auch sein Grab geworden wäre.
Vielleicht würde Navran aber auch einfach schweigen, enttäuscht darüber, dass Yonathan sein Vertrauen so missbraucht hatte. Und Navran konnte schweigen! Das war viel schlimmer als eine heftige, aber kurze Schelte. Yonathan stieß einen tiefen Seufzer aus. Es half alles nichts. Er musste da durch. Entschlossen trat er an die vom Meereswind zerfurchte Holztür, stellte den Stab neben den Türpfosten und schob den Riegel nach oben.
Als er in die unbeleuchtete Hütte trat, konnte er kaum etwas erkennen. Erst langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Sein Blick schweifte durch den Raum. Die Einrichtung war einfach, aber nicht ärmlich. Die Wände waren sauber verputzt und weiß getüncht. Den Fußboden bedeckten Holzbohlen. In einer Ecke des Hauptraumes, rechts von der Eingangstür, standen zwei hölzerne, mit Eisenbändern beschlagene Truhen. Hierin bewahrten Yonathan und Navran ihre Habseligkeiten auf. An einer Wand hingen Regale, in denen sich Teller und Becher aus Zinn und Ton aneinander reihten. Hölzerne Haken trugen außerdem Krüge, kupferne Kessel und Pfannen. Gegenüber befand sich ein großer Kamin, an dem gekocht wurde und der im Winter das Haus beheizte. In der Mitte des Raumes standen die einzigen Möbelstücke: ein Tisch und vier Stühle.
Yonathans Herz schlug schneller. Allmählich erkannte er die Gestalt Navrans, der an dem kleinen Tisch saß und ihn schweigend musterte. Er überlegte noch, wie er seine Verteidigungsrede beginnen sollte, als er schon Navrans tiefe und warme Stimme hörte: »Nun? Was ist geschehen?«
So ruhig war Navrans Ton, als wäre Yonathan nur kurz draußen gewesen, um Wasser zu holen. Obwohl Yonathan seinen Pflegevater besser hätte kennen müssen, war er doch auf Schlimmeres gefasst gewesen – eine Folge seines schlechten Gewissens. Deshalb fragte er ein wenig ungläubig: »Willst du gar nicht schimpfen?«
»Warum sollte ich schelten, wenn ich gar nicht weiß, ob du es verdienst?«, entgegnete Navran genauso ruhig wie vorher. »Vielleicht bist du mit knapper Not einer reißenden Bestie entwischt. Soll ich dich dann noch dafür strafen, dass du mit dem Leben davongekommen bist?« Während er dies sagte, lächelte er freundlich und streckte Yonathan seine Hand entgegen.
Yonathan kniff die Augen zusammen und blickte den im Schatten vor ihm sitzenden Navran misstrauisch an. Wusste er vom Erdfresser? Oder war es nur ein Zufall, dass er mit seiner Vermutung genau richtig lag?
»Wenn du so etwas angenommen hast, warum sitzt du dann hier in der Hütte, statt mich zu suchen?«, entgegnete Yonathan. »Oh, ich habe dich den ganzen Tag droben im Wald gesucht, als du nicht nach Hause kamst. Und morgen wollte ich den Ältestenrat bitten eine groß angelegte Suchaktion nach dir
einzuleiten. Aber es hätte wohl wenig Sinn gehabt, heute Nacht, im Finstern, den
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