Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Trent musste seinen Uniformrock um die Armschiene herum knöpfen, und Jared wirkte immer noch halb benommen, aber gemeinschaftlich gelang es uns, unsere gesamte Gruppe hinunter auf den Paradeplatz zu bugsieren.
Es war ein frostkalter, dunkler Morgen. Wir standen in der Schwärze vor dem Morgengrauen da und warteten. Wir hörten das Hornsignal, und noch immer standen wir in Reih und Glied da. Ich fror, hatte Hunger und – vor allem – Angst. Als Oberst Stiet endlich erschien, wusste ich nicht, ob ich erleichtert sein oder ob ich noch mehr Angst haben sollte. Eine Stunde oder sogar länger putzte er uns herunter mit einer Gardinenpredigt über die Trad i tionen der Kavalla, die Ehre der Akademie und die Ve r antwortung eines jeden Soldaten, die Ehre seines R e giments aufrechtzuerhalten – und wie kläglich wir alle versagt hätten. Er kündigte erneut an, dass unsere Rauf e rei schwerwiegende Konsequenzen haben werde und dass die Rädelsführer, die dafür verantwortlich seien, die Akademie in Unehren verlassen würden. Als er uns schließlich abtreten ließ, waren mir alle Hoffnung und jeglicher Appetit gründlich vergangen.
Wir marschierten mit hängenden Köpfen zu unserem Frühstück und betraten einen ungewöhnlich stillen Spe i sesaal. Wir verzehrten ein Frühstück, das sich in nichts von denen unterschied, die wir bisher tagtäglich vorg e setzt bekommen hatten, seit wir auf der Akademie waren. Es erschien mir freilich noch fader zu schmecken als sonst, und trotz meines leeren Magens war ich bald satt. Bei Tisch redeten wir wenig, tauschten aber einige vie l sagende Blicke aus. Welche von uns würden wohl als Rädelsführer abgeurteilt und von der Akademie geworfen werden?
Als wir in unser Wohnheim zurückkehrten, um unsere Bücher zu h olen, bekamen wir die Antwort. Drei bereits gepackte Koffer warteten in unserem Gemeinschaft s raum. Meiner war nicht dabei, und die Erleichterung, die ich darüber empfand, erfüllte mich mit Scham. Jared starrte seinen mit dumpfem Blick an; ich glaube, sie ha t ten ihm eine solch Dosis von dem Beruhigungsmittel verpasst, dass er gar nicht in der Lage war, die volle Tragweite seines Missgeschicks zu erfassen. Trent ging zu seinem Koffer, setzte sich darauf und vergrub stumm das Gesicht in den Händen. Lofert, ein schlaksiger, nicht sonderlich heller Bursche, der selten den Mund aufmac h te, tat dies jetzt. »Das ist ungerecht«, sagte er verzweifelt. Er ließ den Blick Bestätigung heischend durch die Runde schweifen. »Das ist ungerecht!«, wiederholte er, lauter als beim ersten Mal. »Was habe ich getan, das schlimmer gewesen wäre als das, was irgendeiner von euch getan hat? Warum gerade ich?«
Wir wussten keine Antwort. Rory schaute betreten drein, und ich glaube, wir alle fragten uns insgeheim, warum er nicht nach Hause geschickt worden war. U n teroffizier Dent kam wütend die Treppe heraufgestapft, um uns nach draußen zu jagen. Ungerührt teilte er Jared, Trent und Lofert mit, dass sie in eine Pension in der Stadt gebracht würden und dass bereits Briefe mit der Begrü n dung für ihre unehrenhafte Entlassung an ihre Väter u n terwegs seien. Für uns verbliebene neun fühlte es sich schrecklich an, als wir Aufstellung nahmen, wo wir noch am Tag zuvor zwölf gewesen waren. Dent trieb uns im Eiltempo zu unserer ersten Unterrichtsstunde und ließ uns an der Tür zurück. Als wir das Klassenzimmer betr a ten, sagte Trist leise: »Nun, das war dann wohl unsere erste ›Aussonderung‹.«
»Ja«, stimmte Rory ihm stoisch zu. »Und ich kann nur sagen, ich bin heilfroh, dass es nicht mich getroffen hat.«
Ich empfand das Gleiche, und ich schämte mich dafür.
12. Post von zu Hause
Das Leben an der Akademie ging weiter. Unsere tägliche Routine schloss sich um uns herum wie eine verheilende Wunde, und nach einiger Zeit kamen uns die leeren K o jen in unserer Unterkunft und unsere kleinere Formation beim Marschieren nicht mehr so ungewohnt und fremd vor. Äußerlich änderte sich wenig, doch in meinem I n nern hatten sich alle meine Gefühle hinsichtlich der Ak a demie und sogar der Kavalla gewandelt. Nichts schien mehr sicher, keine Zukunft konnte mehr als selbstve r ständlich angesehen, keine Ehre oder Kameradschaft konnte mehr als gegeben vorausgesetzt werden. An e i nem einzigen Tag hatte ich gesehen, wie die Leben s träume von drei jungen Menschen zerplatzten. Ich musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es genauso leicht mich treffen konnte.
Wenn
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