Neville, Katherine - Der magische Zirkel
großen Denker gesehen, als mächtigen Propheten, als einen Erlöser und König. Aber ich sah ihn, wie ein fili oder Seher den anderen sieht, mit unverstellten Augen. Ich sah ihn nackt – so nackt wie wir auf die Welt kommen und so nackt, wie wir sind, wenn wir sterben. Ein fili kann die blanke Seele eines anderen sehen – und die Seele eures Meisters war alt. Aber da war noch mehr…»
«Noch mehr?» fragte Josef, obwohl er fast Angst hatte, noch mehr zu hören.
Der Fürst der Füchse blickte ins Feuer und beobachtete die Funken, die wie etwas Lebendiges über den Boden krochen, bevor sie lautlos in der schwarzen Nacht aufgingen. Josef lief ein ahnungsvoller Schauder über den Rücken, noch bevor er die geflüsterten Worte des Druiden hörte.
«Er hat einen Gott in sich.»
Wie von einem Schlag getroffen stieß Josef den Atem aus. Und es war ihm nicht entgangen, daß Lovernios in der Gegenwart gesprochen hatte.
«Einen Gott?» rief Josef. «Aber Lovernios, du weißt, daß es für unser Volk nur einen Gott geben kann, den König der Könige, Herr der Heerscharen, den Einen, dessen Name nicht ausgesprochen, dessen Bild nie geschnitzt wurde, der mit seinem Atem die Welt schuf, der sich selbst schafft, indem er einfach sagt: ‹Ich bin.› Glaubst du im Ernst, dieser Gott könnte tatsächlich in einen lebenden Menschen eingehen?»
«Ich fürchte, ich habe seine Ähnlichkeit mit einem anderen Gott gesehen», antwortete der Keltenfürst zögernd, «denn sogar sein Name ist der des großen keltischen Gottes Esus, des Herrn der Unterwelt, des Reichtums, der der Erde entspringt. Menschenopfer – oder richtiger: Menschen, die sich Esus opfern – müssen an einem Baum hängen, um die echte Weisheit und das Bewußtsein von Unsterblichkeit zu erlangen. Wotan, ein Gott des fernen Nordens, hing neun Tage lang an einem Baum, um sich das Geheimnis der Runen zu verschaffen, das Geheimnis aller Geheimnisse. Dein Esus von Nazareth hing neun Stunden am Kreuz, aber die Idee ist die gleiche. Ich glaube, daß er ein ganz großer Schamane war – daß er sich selbst geopfert hat, um in den magischen Kreis zu gelangen, in dem die Wahrheit wohnt; um göttliche Weisheit und geistige Unsterblichkeit zu erlangen.»
«Sich selbst geopfert? Für Weisheit? Für eine Art von Unsterblichkeit?» rief Josef von Arimathäa aufspringend. Es stimmte, daß die Römer von Menschenopfern bei den Kelten sprachen, aber heute hörte er dies zum ersten Mal von einem Druiden. «Nein, nein. Das ist einfach nicht möglich. Jesua mag ein Meister gewesen sein, aber ich habe ihn aufgezogen – für mich war er wie mein einziges Kind. Ich habe ihn besser als alle gekannt. Er hätte sich nie von der Menschheit abgewandt oder von seiner Lebensaufgabe, Erlösung für seine Mitmenschen zu suchen durch Liebe, und zwar hier auf der Erde! Er strebte immer zum Leben und zum Licht. Erwarte nicht von mir, daß ich glaube, der Meister hätte sich auf irgendein dunkles barbarisches Ritual eingelassen, um die blutrünstigen Götter unserer Vorfahren anzurufen.»
Auch Lovernios war aufgestanden. Er legte die Hände auf Josefs Schultern und blickte ihm tief in die Augen, bevor er sprach.
«Aber genau das glaubst du, mein Freund», sagte er, und als Josef zurückwich, fügte er hinzu: «Es ist das, was du die ganze Zeit befürchtet hast, nicht wahr? Oder warum hast du gewartet, bis Jakob Zebedäus abgereist war, um diese Tongefäße zu öffnen? Warum hast du mich von den Inseln kommen lassen, um bei dir zu sein, wenn du sie öffnest?»
Ohne auf Josefs Antwort zu warten, bückte sich der Fürst, um das Netz mit den Amphoren aufzuheben und es gegen das helle Feuer zu halten.
«Die einzige Frage ist jetzt, ob wir lesen, was hier drin ist, oder ob wir es verbrennen», sagte er zu Josef. «Euer Meister hat einen Weg gewählt, den ich gut kenne. Bei unserem Volk dürfen nur diejenigen, die vom Schicksal auserwählt sind, den Weg eines Druiden gehen, eines Boten zu den Göttern. Es ist ein Weg, der einen darauf vorbereitet, sich selbst zu opfern, und das hat euer Meister meiner Meinung nach immer im Sinn gehabt: sich zu opfern für die Menschheit. Auf diesem Weg findet der Bote die Weisheit und Wahrheit, die für die Vollendung eines solchen Ziels notwendig sind. Aber es gibt einen anderen Weg, einen, der viel größere Gefahren birgt, der aber, wenn er erfolgreich zu Ende gegangen wird, zu wesentlich größerer Erkenntnis und Macht führt.»
«Zu welcher Macht?» fragte
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