Nichts, was man fürchten müsste
einiger Klarheit und Vollständigkeit etwa bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zurückschauen (natürlich nur in meinem eige nen westeuropäischen Kulturkreis). Davor gibt es einzelne geniale Geister, moralische und künstlerische Vorbilder, bahnbrechende Ideen, Geistesströmungen und vereinzelte historische Taten, aber nur hier und da, selten als Teil eines Kontinuums; und ungefähr bei den kykladischen Statuen von 3000 bis 2000 vor Christus erschöpft sich mein Blick zurück. Mein Blick nach vorn reicht mit Sicherheit nicht weiter als eben diese bescheidenen rund hundertfünfzi g Jahre; er ist verhalten, verschwommen und erwartet wenig von der Nachwelt.
Tschechow hat diesen Blick in zwei Richtungen wunderbar verstanden und auf die Bühne gebracht. Seine Spezialität waren gescheiterte Idealisten, die einstmals von einem besseren Leben träumten, nun aber in der Gegenwart feststecken und die Zukunft fürchten. Wenn sich ein Drama von Tschechow seinem Ende zuneigt, drückt eine Figur oft zaghaft die Hoffnung aus, die Nachwelt möge sich eines weniger qualvollen Lebens erfreuen und liebevoll auf ihre unglücklichen Vorfahren zurückblicken. Aus der Nachwelt, die das Theaterpublikum darstellt, ist bisweilen verständnisinniges Kichern und nachsichtiges Seufzen zu hören: ein leises Zeichen der Versöhnlichkeit mit einem ironischen Unterton des Wissens um die tatsächlichen Begebenheiten in den seither vergangenen hundert Jahren – Stalinismus, Massenmord, Gulags, brutale Industrialisierung, die Abholzung und Vergiftung all der Wälder und Seen, die Doktor Astrow und seine Seelenverwandten so voller Trauer heraufbeschwören, und die Auslieferung der Musik an Leute wie Pawel Apostolow.
Doch wenn wir auf diese Scheuklappen tragenden Einfaltspinsel von ehedem zurückblicken, vergessen wir leicht, dass auch unsere Nachfolger auf uns zurückblicken und über unseren Egozentrismus urteilen werden – nach ihren Kriterien, nicht unseren. Wie viel Verständnis, Liebe und Versöhnlichkeit werden sie uns entgegenbringen? Wie sieht es mit unserer Nachwelt aus? Wenn wir uns diese Frage überhaupt stellen, denken wir wohl in tschechowschen Dimensionen: ein, zwei Generationen, vielleicht auch ein Jahrhundert. Und wir denken uns jene, die uns beurteilen werden, ganz selbstverständlich als nicht sonderlich verschieden von uns, da in der Zukunft des Planeten jetzt nur noch der Feinschliff des menschlichen Wesens auf dem Programm steht: die Hebung unseres Moralgefühls und Gemeinschaftssinns, das Zurückdrängen unserer aggressiven Verhaltensweisen, der Kampf gegen Armut und Krankheit, der Wettlauf gegen den Klimawandel, die Verlängerung des menschlichen Lebens und dergleichen mehr.
Doch aus evolutionärer Sicht sind das alles nur äußerst kurzzeitige Politikerträume. Vor einer Weile sollten Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete den einen Gedanken umreißen, von dem sie wünschten, er würde in der Allgemeinheit besser verstanden. Was die anderen sagten, habe ich vergessen, so richtungsweisend waren die Ausführungen von Martin Rees, Königlicher Hofastronom und Professor für Kosmologie und Astrophysik in Cambridge:
Ich wünsche mir ein größeres Bewusstsein von der unermesslichen Zeitspanne, die noch vor uns liegt – für unseren Planeten und das Leben an sich. Gebildete Menschen wissen meist, dass wir das Produkt eines fast vier Milliarden Jahre andauernden darwinschen Selektionsprozesses sind, aber viele halten den Menschen irgendwie für den Gipfel dieser Entwicklung. Dabei hat unsere Sonne nicht einmal die Hälfte ihrer Lebenszeit hinter sich. Es wird nicht der Mensch sein, der den Untergang der Sonne in sechs Milliarden Jahren miterlebt. Was es dann noch an Geschöpfen gibt, wird so verschieden von uns sein, wie wir uns von Bakterien oder Amöben unterscheiden.
Natürlich! SO KANN MAN SICH TÄUSCHEN – SCHWER TÄUSCHEN – VON ANFANG AN . Und wie dilettantisch, etwas zu übersehen, was so offenkundige und furchterregende Weiterungen hat. Nicht »wir« werden in sechs Milliarden Jahren aussterben. Es wird etwas aussterben, was weit von uns entfernt ist oder zumindest ganz anders ist als wir. Wir könnten ja schon bei einem erneuten großen Massenaussterben auf unserem Planeten untergegangen sein. Das Massenaussterben am Ende des Perm vernichtete neunundneunzig Prozent der Tiere auf dieser Erde, das in der Kreidezeit zwei Drittel aller Arten einschließlich der Dinosaurier, sodass die Säugetiere die
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