Niemand kennt mich so wie du
würde nicht zurückkehren und wusste nicht, wohin er als Nächstes gehen wollte. Kam Zeit, kam Rat, und bis dahin würde er mutterseelenallein in einer leeren, modernen, kalten, unpersönlichen Wohnung sitzen und darauf warten, dass der richtige Moment kam, um seine gelangweilte, launische, frustrierte Schwester zu besuchen. Ticktack, ticktack, ticktack, ticktack.
Lily hielt vor einem Restaurant, das sie nicht kannte, doch es lag an einer Hauptstraße und schien gut besucht zu sein. Sie stiegen aus und betraten ein urgemütliches, altmodisch eingerichtetes italienisches Lokal mit karierten Tischdecken, Kerzen in Weinflaschen und Holzmobiliar. Ihnen schlug der Duft von frischer Tomatensoße und Holzofenpizza entgegen, und seit zwei Tagen spürte Lily zum ersten Mal wieder, dass sie hungrig war. Seit der Nacht auf der Schaukel konnte Lily nicht mehr schlafen und kaum noch essen. Ihre Gedanken rasten ohne Unterlass. Sie stellte alles in Frage, was sie selbst und ihr Leben betraf, und plötzlich blähten sich Dinge, an die sie viele Jahre keinen Gedanken verschwendet hatte, zu riesigen Problemen auf – wie diese Sache irgendwann Anfang der Woche am Frühstückstisch.
«Mum, ich glaube, ich nehme ein Spinatomelett. Dad, ich darf heute an einem alten BMW arbeiten», sagte Scott.
«Baujahr?», fragte Declan.
«Es ist ein früher V8.»
«Mum, ich habe Lust auf Pfannkuchen, aber nur, wenn wir auch den richtigen Sirup haben», sagte Daisy.
«Ein 501?», fragte Declan Scott und warf dann seiner Frau einen Blick zu. «Ich möchte Spiegeleier mit Speck, aber nicht ganz so viel Speck. Ich habe heute Vormittag eine Besprechung und möchte nicht nach Schweinefleisch stinken.»
«Ein 502», antwortete Scott.
«Schön», sagte Declan. «Ich wette, der gehört einem von den Brownes. Die haben in den Fünfzigern bis Siebzigern mit dem Export von Butter ein Vermögen gemacht. Der Alte war ein riesiger Oldtimer-Fan, und ich bin mir sicher, dass seine Söhne in seine Fußstapfen getreten sind. Ich habe früher selbst an einigen von den alten Schönheiten rumgeschraubt. Ach, und Lily, bitte achte diesmal darauf, dass das Eigelb ganz bleibt. Gestern ist es ausgelaufen.»
Kein bitte . Kein danke . Wann zum Teufel bin ich hier eigentlich zum beschissenen Dienstmädchen degradiert worden?
«Ich mache Spiegeleier mit Speck», sagte sie. «Entweder esst ihr das, oder ihr lasst es bleiben.»
Da verstummten alle am Tisch und starrten sie entgeistert an.
«Das war ein Witz, oder?», sagte Scott.
«Sehr unlustig», sagte Daisy.
«Was soll das denn?», sagte Declan.
«Ich bin nicht euer Koch, und wir sind hier nicht im Restaurant. Wollt ihr Spiegeleier oder nicht?»
Die beiden Kinder sahen erst einander und dann ihren Vater an. Declan machte sie mit einem gemurmelten Spruch über ihre Hormone runter, so wie immer, und sie lachten zusammen.
Eine Ewigkeit lang hatte Lily solche Situationen entweder einfach auf sich beruhen lassen oder mit einem eigenen Witz entschärft, doch an diesem Morgen schleuderte sie die Pfanne, die sie in der Hand hielt, einfach quer durch die Küche. Sie schlug gegen die Wand, und ein Stückchen Putz sprang ab. Declan und die Kinder waren fassungslos.
«Die Küche ist geschlossen», sagte Lily und verließ den Raum.
Als ihre Schicht im Krankenhaus vorbei war und die freie Woche begann, sah Lily sich mit einem Dilemma konfrontiert. Sie wollte Eve besuchen und die anderen wiedersehen: Clooney und Gar, Gina und sogar Paul, mit dem sie sich früher nie so gut verstanden hatte. Er war ihr immer zu still gewesen, unnahbar, manchmal sogar kalt. Doch es war schön, wieder mit den Leuten zusammen zu sein, mit denen sie aufgewachsen war und zu denen sie so viele Jahre keinen Kontakt gehabt hatte. Sie konnte Declan unmöglich davon erzählen, nicht nur wegen seines Hasses auf Eve, sondern auch, weil Declan nicht wollte, dass Lily eigene Freunde besaß. Es gefiel ihm nicht, wenn sie von ihrer Alltagsroutine abwich. Er musste zu jeder Minute wissen, wo sie war. Jeder Tag war im Grunde gleich, wenn auch mit leichten Abweichungen, und am Kühlschrank hing ein Tagesplaner, der penibel einzuhalten war und Lily so gut wie keinen Freiraum ließ. Lily hatte nie gemerkt, dass ihr Leben inzwischen völlig fremdbestimmt war, und obwohl es sie nervte, dass ihr Ehemann ihr Mobiltelefon als Ortungsgerät missbrauchte, hatte sie sich bis jetzt eigentlich nie gefangen gefühlt. Sobald sie es mehr als fünfmal klingeln ließ,
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