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Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten

Titel: Nocturna - Die Nacht der gestohlenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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einen Moment lang, dann lief sie an ihm vorbei. Ihre Gedanken überschlugen sich. Als sie in ihrem Zimmer ankam, schloss sie die Tür und lehnte sich dagegen. Ihre Hände zitterten.
    Das Fenster - es war plötzlich offen gewesen. Der Junge … Konnte das sein? Hatte sie sich nicht getäuscht? Aber was hatte das alles zu bedeuten - und was hatte ihr Onkel damit zu tun?
    Zusammenhänge … sie brauchte Zusammenhänge.

Rot

    S o fing es an.
    Im rieselnden Schnee hatte ein Junge gelegen. Vielleicht lag er schon lange so da. Die Eiskrusten auf seinen Kleidern verrieten, dass es mindestens eine Nacht gewesen sein musste - die blau angelaufenen Fingernägel ließen auf mehrere Tage schließen. Raureif überzog seine Augenbrauen und Wimpern. Doch obwohl es sich zweifellos um eine Leiche handelte, trug das Gesicht des Jungen nicht die harte Maske des Todes. Die Lippen und Wangen schimmerten in bläulichem, sanftem Weiß. Es war ein Licht überirdischer Unschuld, das diesen toten Körper umhauchte.
    Der Junge lag so im Schnee, eine Hand neben der Hüfte, die andere neben dem Gesicht, die Beine leicht angewinkelt wie in einem verzauberten Schlummer. Niemand kam vorbei und fand ihn. Während der Schnee aus dem Himmel auf ihn niederschwebte und dabei doch seinen engelhaften Glanz nicht verringern konnte, blieb er den Menschen vollkommen verborgen wie so viele Wunder der Welt.
     
    Er fiel durch einen weißen Tunnel, der weder Anfang noch Ende hatte. Blendendes Licht umstrahlte ihn, kam von überall und nirgendwo. Dann wurde ihm klar, dass das Licht gar
kein Licht war; alles um ihn war schlichter weißer Raum. Er befand sich in keinem Tunnel. Er befand sich in sich selbst.
    Er erwachte mitten im Schnee, öffnete die Augen, verzog das vor Kälte starre Gesicht und spürte zum ersten Mal, was er danach nie wieder loswerden würde: die Leere. Der Gedanke traf Vampa wie ein Blitz, ein jähes Aufleuchten in seinem Verstand, der weiß und flimmernd war wie der Schnee rings um ihn - er wusste nicht, wer er war. Er wusste gar nichts.
    Mehrere Augenblicke, vielleicht waren es auch Minuten, tastete Vampa blind in seinem Gedächtnis. Aber da war nichts. Dann kam ihm der zweite Gedanke: Er fühlte nichts.
    Keine Panik, keine Angst, keine Verzweiflung. Nur ein dumpfes Grauen vor sich selbst. Wer war er? Was war er? In welchem Körper war die Stimme gefangen, die sich diese Fragen stellte? Denn mehr als dieses Stimmchen im weiten weißen Nichts seines Verstandes war er nicht.
    Erst im Verlauf der nächsten Wochen kamen ihm bruchstückhafte Erinnerungsfetzen, wie Papierschnipsel flatterten sie ihm zu. Und das rote Buch sah er das erste Mal in einem Traum.
    Es war alles finster, als befände er sich in einem Ozean aus Tinte. Dann schwebte etwas aus der wolkigen Dunkelheit - etwas Rotes. Ein Buch. Jemand tauchte seine Feder in ein Fläschchen voll dunkler, dicker Flüssigkeit. Es war Blut, gemischt mit Tinte. Die Feder setzte auf die aufgestrichene Buchseite. Vampa hörte das Kratzen der Feder auf dem Papier. Das Dritte Buch. Mehr von dem, was aufgeschrieben wurde, sah er nicht. Wieder verschwand das Buch in Schwärze und Vampa träumte in Dunkelheit weiter. Aber das Geräusch der kratzenden Feder war noch da, Vampa spürte, wie es alles aus ihm herauslockte, und seine Erinnerungen wurden aufgesaugt, eingefangen. Nichts blieb, nur das Kratzen.
    Vampa erwachte mit Tränen und dem Geschmack eines fernen
Gefühls. Plötzlich wurde ihm klar, dass er, seine Vergangenheit, seine Seele in dem roten Buch mit der roten Bluttinte steckten. Im Dritten Buch. Alles würde er tun, nur um dieses Buch zu finden.
    Die Suche nach dem Blutbuch wurde zum Sinn seiner Existenz. Vielleicht richtete er aber auch bloß all seine Kräfte auf die Suche, um sich abzulenken - davon abzulenken, dass er in sich selbst gefangen war und die Sinnlosigkeit seines Daseins niemals ein Ende finden würde, nicht einmal im Tod. Aber das merkte er erst später. Viel später, nach fast einem Jahr, fiel ihm auf, dass er nicht sterben konnte.
    Manchmal glaubte er auch, verrückt zu sein. Was, wenn er sich nur einbildete, sein Haar wachse jede Nacht nach, seine Schrammen verheilten wieder, sein kindliches Gesicht werde nie älter? War er ein Wirrkopf, der zwischen Traum und Wirklichkeit nicht unterscheiden konnte? Aber wenn dem so war, hätte er doch nicht darüber nachdenken können, oder?
    Außerdem war Vampa ganz anders als alle Menschen, die er beobachtete, ob verrückt oder gesund. Wie

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