Nomadentochter
sichere Reise gewähren. Von Amsterdam aus flogen wir zunächst nach London. Als die Maschine über die Startbahn rollte, musste Mohammed auf einmal dringend zur Toilette. Er begann sich aufzuführen wie ein Kleinkind. Das Anschnallzeichen leuchtete, aber er jammerte die ganze Zeit: »Ich muss mal... ganz dringend.«
Aber ich beschwichtigte: »Jetzt gedulde dich doch noch ein bisschen, Mohammed. Wenn wir erst einmal in der Luft sind, leuchtet das Zeichen nicht mehr und du kannst gehen.«
Er stöhnte: »Ich kann nicht mehr warten! Wie soll ich das bloß aushalten!«, und rutschte auf seinem Sitz hin und her.
Schließlich sagte ich zu ihm: »Wenn du wirklich nicht mehr warten kannst, dann steh eben einfach auf und geh. Wenn du so nötig musst...« Mohammed wollte sich aus seinem Sitz erheben, aber eine der Stewardessen eilte herbei und gebot ihm Einhalt.
»Nein, nein, Mister«, sagte sie. »Setzen Sie sich hin, Sie dürfen jetzt nicht aufstehen!«
Gehorsam nahm er wieder Platz, hielt sich aber den Bauch und presste die Beine zusammen. Ich sah ihn an und dachte, dass Aleeke sich mutiger verhalten würde. Mein Sohn würde einfach aufstehen und der Stewardess erklären, sie solle ihm den Weg freimachen. Mein Bruder aber saß da und stöhnte immer lauter. Die Leute begannen, sich nach uns umzudrehen, und ich zischte ihm zu: »He, Bruder, benimm dich nicht wie ein ungezogenes Kind, das ist mir peinlich! Wenn du gehen musst, dann tu es endlich!«
»Sie lassen mich doch nicht«, jammerte er.
»Sie haben nicht das Recht, dich daran zu hindern«, erklärte ich ihm. »Warum hörst du überhaupt auf sie?« Ich verstand nicht, warum er sich so behandeln ließ. Jedes Mal, wenn er sich erheben wollte, sah die Stewardess ihn streng an und er sank wieder auf seinen Sitz zurück. Was war nur aus ihm geworden?
Von Heathrow aus flogen wir mit einer anderen Maschine nach Bahrain. Nach fast siebzehn Stunden Flug und den Stunden, die das Umsteigen und der Transfer kostete, hatte ich keinerlei Zeitgefühl mehr. Ich war müde, gereizt, und hatte die engen Sitze und das schreckliche Essen satt. Als wir in Bahrain ausstiegen, fragte ich Mohammed, wie lange es noch dauern würde, bis wir endlich unsere Mutter wieder sähen.
»Wir haben noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter uns«, erklärte er mir. Er holte die Tickets heraus und wies auf einen Abschnitt. Hier müssen wir noch einmal umsteigen und nach Abu Dhabi fliegen.«
»Abu Dhabi? Ich wusste gar nicht, dass es über Abu Dhabi geht. An diesen Ort knüpften sich für mich böse Erinnerungen.
Er beruhigte mich. »Es dauert nur eine Stunde. Von dort fliegen wir nach Somalia.«
Während dieser endlosen Reise füllte sich mein Herz mit Zweifeln. Wen würde ich antreffen? Würden sie alle gesund sein? Wie würde meine Mutter es aufnehmen, dass ich den Vater meines Sohnes nie geheiratet hatte? In Somalia sind allein erziehende Mütter mit Kind immer Prostituierte.
Ich wollte, dass mein Vater mich wahrnahm, dass er seiner Tochter direkt ins Gesicht sah. Menschen auf der ganzen Welt kennen mein Porträt. Fotografen und Zeitschriften haben viel Geld dafür bezahlt, mich ablichten zu dürfen – aber ich fragte mich, ob mein Vater überhaupt wusste, wie ich aussah. Als ich ein kleines Mädchen war, galt all seine Aufmerksamkeit den Jungen. Mädchen tauchten höchstens mit der Teekanne auf und verschwanden dann wieder. Ich durfte nur mit einem Mann sprechen, wenn er mich zuerst ansprach, und ganz selten war ich anwesend, wenn sich die Erwachsenen unterhielten. Jetzt lebte ich in einem Land, wo Männer und Frauen sehr direkt miteinander umgingen. Ich glaubte nicht, dass das falsch war oder dass man deswegen schlimme Folgen zu fürchten hatte.
»Waris, schlag die Augen nieder, wenn du mit deinem Vater sprichst«, hatte meine Mutter mir beigebracht, als ich noch so klein war, dass ich kaum eine Milchschüssel tragen konnte.
»Warum?«, fragte ich sie.
»Ebwaye, ebwaye«
, wiederholte sie. Schande, Schande! Das Gleiche sagte sie, wenn ich breitbeinig dasaß oder mein Kleid hochgerutscht war. Sie würde mir meine Fragen nie direkt beantworten. Warum muss man sich deswegen schämen? Was bedeutet das? So ist es eben in Somalia, aber ich habe es schon als Kind nicht gemocht und jetzt, wo ich im Westen lebte, hasste ich es sogar. Ich respektierte meine Kultur, aber ich wollte, dass mein Vater mir in die Augen sah. Selbstverständlich würde er nicht den Blick abwenden – aber er würde
Weitere Kostenlose Bücher