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Nomadentochter

Titel: Nomadentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waris Dirie
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der Nacht.
    Als wir näher kamen, erkannte ich zunächst nur die Umrisse einer winzigen Hütte. Sie bestand offenbar aus einem einzigen Raum und war aus Stöcken gebaut, die man miteinander verbunden hatte. Das Dach war aus Blechstücken zusammengeschustert. Wir blieben stehen, und ich holte tief Luft.
    »Wartet«, bat ich meinen Bruder und Nhur. »Sagt nichts, bevor ich sie nicht umarmt und geküsst habe.«
    Natürlich gab es kein Schloss in der Tür, sondern nur eine kleine Blechplatte, die an der Seite oben und unten mit Draht befestigt war. Die Öffnung war vollkommen verzogen, und ich musste daran zerren, um sie aufzubekommen. Die Hütte meiner Mutter war so winzig, dass ihre Füße direkt an der Tür lagen und ich beim Eintreten darüber stolperte. Meine Mutter setzte sich auf und fragte in die Dunkelheit: »Wer ist da?« Ich konnte nichts sehen, deshalb tastete ich mich auf den Klang ihrer Stimme zu. In einer Hütte muss man gebückt gehen, weil sie so niedrig ist, aber Mohammed stieß sich trotzdem den Kopf an. Das machte wieder Lärm, und meine Mutter fragte erneut: »Wer ist da?« Ich wollte nicht antworten, sondern kniete mich einfach hin, um den Moment auszukosten. Kläglich rief sie: »Bitte, wer ist denn da?« Schließlich fand ich in der Dunkelheit ihren Kopf, umfasste ihr Gesicht mit den Händen, küsste sie und legte meine Wange an ihre, damit sie die Tränen spürte, die mir übers Gesicht liefen. Sie lauschte einen Augenblick auf meinen Atem, zog meinen Kopf ganz nahe zu sich heran und flüsterte wieder: »Wer bist du?«
    »Ich bin es, Mama. Waris.«
    Zweifellos erkannte sie sofort meine Stimme, denn sie hielt kurz die Luft an. Dann packte sie mich und hielt mich eng umschlungen, als sei ich ein Baby, das sie in der letzten Sekunde vor einem Sturz bewahrte. »Waris? Bist du wirklich meine Tochter Waris?«, fragte sie lachend und weinend zugleich.
    »Ja, Mama«, schluchzte ich. »Ich bin es wirklich, und Mohammed ist auch hier.«
    Sie ergriff seine Hände, und ihre Freudentränen rannen mir über den Arm. »Wo kommst du her? Ich habe gedacht, du bist tot. Allah! Allah! Meine Tochter! Mein Sohn!« Sie wiegte mich in ihren Armen und tat so, als wolle sie mich ausschimpfen. »Allah! Allah! Waris, du hast mich zu Tode erschreckt! Was hast du dir dabei gedacht, dich hier so hereinzuschleichen!« Lachend und weinend zugleich fuhr sie fort: »Fahr sofort wieder nach Hause! Ich bin zu alt für solche Scherze!« Dann umarmte sie mich wieder und sagte: »Was machst du denn hier, Mädchen?«
    Unwillkürlich musste ich lachen. Sie hatte mich seit Jahren nicht gesehen, und als ich plötzlich mitten in der Nacht auftauchte, packte sie der Übermut. Hoffentlich habe ich ein bisschen von meiner Mutter in mir, dachte.
    »Mohammed«, setzte Mama an und umarmte auch ihn. »Ich hätte wissen müssen, dass es nur
Mohammed Dehrie
sein kann, wenn sich jemand so heftig den Kopf anstößt.« Dehr war der Spitzname meines Bruders. Übersetzt heißt es »der Große«, weil er einem Kamel bis an den Kopf reicht.
    Ein Kind schlief bei meiner Mutter, wachte jedoch von unserem Gespräch nicht auf. »Wer ist der kleine Junge?«, fragte ich.
    »Das ist der Erstgeborene deines Bruders Burhaan, Mohammed Inyer, der kleine Mohammed«, gab meine Mutter Auskunft und strich ihm über das Köpfchen.
    Abdillahi richtete aus, Mohammed könne bei meinem Onkel und seiner Familie schlafen, weil in der kleinen Hütte nicht genug Platz für uns alle sei. Als sie weg waren, zündete meine Mutter die kleine Laterne an, die wir
feynuss
nennen. Sie gibt ein weiches Licht, und ich konnte endlich ihr liebes Gesicht, ihre perfekte Nase und ihre zimtfarbenen Augen sehen. Sie zog mich eng an sich, als fürchtete sie, ich sei nur ein Traum und könne wieder verschwunden sein, wenn sie aufwachte.
    Meine Mutter, ich und Nhur blieben noch auf und unterhielten uns. Letztere schilderte, wie sie ein Auto und unbekannte Stimmen vor dem Haus gehört habe. Davon sei sie aufgewacht. Sie umarmte mich, streichelte mir über die Arme und mein Kleid. Ich erzählte ihnen alles von unserer Reise und wie lange wir unterwegs gewesen waren. Meine Mutter hielt mich fest in den Armen und kicherte immer wieder, als seien wir auf einem fliegenden Teppich angereist.
    »Nhur«, sagte ich, »es tut mir Leid, dass ich fragen musste, wer du bist. Ich wusste ja gar nicht, dass es dich gibt, und ich hatte keine Ahnung, dass mein Bruder ein erstes Mal und jetzt mit dir auch ein zweites

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