Nomadentochter
vertraut waren. Ich müsste mich wieder häufiger in Somalia aufhalten, um sie erneut zu erfahren. Hoffentlich würde ich nie wieder so lange wegbleiben müssen. Aber jetzt hatte die Reise ja ihre Schrecken verloren.
Ich kenne meine Mutter eigentlich gar nicht richtig – schließlich war ich noch ein halbes Kind, als ich weglief –, aber zwischen uns gab es immer eine Verbindung. Ich weiß einfach, wie sie denkt, obwohl ich es nicht benennen kann. Als ich sie einmal kurz – anlässlich der Filmaufnahmen – in Äthiopien traf, hatte ich sie gebeten, mit mir nach Amerika zu kommen. »Mama, flieg mit mir nach New York! Ich gebe dir alles, was du willst.«
Sie blickte mich damals an und fragte: »Wie meinst du das, Mädchen? Was heißt denn alles? Was ich brauche, habe ich hier in der Wüste.«
Tief im Innern spürte ich als junges Mädchen wohl, dass meine Bestimmung nicht das Leben in der Wüste war – deshalb bin ich weggelaufen.
Aber jetzt wollte ich ihr Leben verstehen, ihre spirituellen Schätze finden und nie wieder ohne sie sein.
»Mama«, fragte ich, »weißt du, wo mein Vater ist? Mohammed meinte, niemand hätte ihn mehr gesehen, nachdem seine Kamele gestohlen worden waren. Wie geht es Raschid?«
»Oh, du hast davon gehört. Raschid geht es gut, er kann sich wieder um Tiere kümmern. Die Kugel ist direkt durch seinen Arm gegangen und nicht stecken geblieben – wie die in meiner Brust. Dein Vater wollte unbedingt seine Kamele zurückholen, aber es gelang ihm nicht, sie zu finden. Sie waren spurlos verschwunden. Vielleicht sind sie ja nach Saudi-Arabien verschifft worden, oder die Diebe haben sie aufgegessen. Schließlich gab dein Vater die Suche auf und kam doch wieder zurück. Er ist draußen im Busch.« Sie wies in die Dunkelheit.
Nhur erklärte, mein Vater lebe nicht weit von dem Dorf, in dem wir uns aufhielten, mit einer anderen Frau zusammen. Er will keine menschliche Gemeinschaft, sondern bleibt lieber bei den Tieren, auf die er Anspruch erhebt, in der Wüste. Diese trugen ganz deutlich unser Brandzeichen, und deshalb gelang es ein paar Stammesverwandten, ihm wenigstens einen Teil seiner Herde wiederzubeschaffen. Nhur schätzte, dass er ungefähr fünf Kamele, ein paar Ziegen und Schafe besaß. Mein jünger Bruder Raschid half ihm dabei. Ich dachte an all die menschenleeren Gebiete, die wir auf unserer Fahrt passiert hatten, und fragte mich, ob wir ihn wohl finden würden. Meine Mutter liebte meinen Vater immer noch, aber er hatte sich schon vor langem, als ich noch ein Kind war, eine zweite, jüngere Frau genommen. Die meiste Zeit lebte er mit ihr im Busch. »Ich habe gehört, er besäße noch eine dritte Frau«, sagte ich in Ungewissheit, wie meine Mutter darauf wohl reagierte.
»Ja, das stimmt, aber sie ist ihm weggelaufen, oder er hat sich kürzlich scheiden lassen«, erklärte sie.
»Was?«, stammelte ich. »Was ist denn passiert?«
»Kind, ich weiß nicht, warum sie gegangen ist. Vielleicht wollte sie nicht arbeiten«, meinte Mama gleichmütig. Die Laterne begann zu blaken, und sie richtete sie wieder. Wir sagen, dass der Rauch einem Geheimnisse verrät – aber die Reaktion meiner Mutter auf die anderen Frauen enthüllte er nicht. Oft ist eine weitere Gattin ein Segen, weil die weiblichen Wesen bei uns viel Arbeit haben und sie sich dann gegenseitig helfen können. Meine Mutter jedoch wollte offenbar genauso wenig über meinen Vater und seine Angetrauten reden, wie über Burhaans erste Frau.
»Vor zwei Tagen ist dein Vater irgendwo im Busch operiert worden«, flüsterte Nhur. »Burhaan hat gehört, dass es ihm schlecht ginge, und leistet ihm jetzt Gesellschaft.«
»Eine Operation in der Wüste?«
»Hiiyea.«
»Vor zwei Tagen«, keuchte ich. Wenn wir doch nur eher hier gewesen wären! Ich dachte an dieses grässliche Hotelzimmer in Abu Dhabi und die unnötige Verzögerung. »Was für eine Operation denn?«, fragte ich.
»An den Augen, Waris«, präzisierte Nhur leise. »Er hatte schon die ganze Zeit über Probleme damit.«
»Allah, seine Augen«, murmelte ich. Ich hatte gehört, dass er nicht mehr gut sah, hatte aber geglaubt, es würde ihm bald wieder besser gehen. Wahrscheinlich, war es mir durch den Kopf gegangen, konnte er nur schlecht sehen und brauchte eine Brille. Aber jetzt hätte er wohl echte Hilfe benötigt!
»Wir haben gehört, er sei blind und leide schreckliche Schmerzen«, fuhr Nhur fort. »Burhaan beschloss, ihn zu suchen und ihn in das nächstgelegene
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